Harnstoff ist eine der weltweit wichtigsten Industriechemikalien und findet vielseitige Anwendung: als Düngemittel, Grundstoff für Kunstharze, in der Sprengstoffherstellung und als Treibstoffzusatz zur Abgasreinigung in Fahrzeugen. Darüber hinaus wird Harnstoff als potenzieller Schlüsselbaustein für die Entstehung von Biomolekülen wie RNA und DNA im Kontext der Ursprungs des Lebens diskutiert. Bislang war jedoch unklar, wie Harnstoff selbst auf der frühen Erde entstanden sein könnte. Ein Forschungsteam um Ruth Signorell, Professorin für Physikalische Chemie an der ETH Zürich, hat nun einen bisher unbekannten Reaktionsweg zur Harnstoffbildung entdeckt, der diese offene Frage beantworten könnte.
Chemie an der Wasseroberfläche
Die industrielle Herstellung von Harnstoff aus Ammoniak (NH₃) und Kohlendioxid (CO₂) erfordert entweder hohe Drücke und Temperaturen oder den Einsatz chemischer Katalysatoren. Im Gegensatz dazu nutzen Menschen und Tiere Enzyme, um dieselbe Reaktion zu ermöglichen, wodurch giftiges Ammoniak, das beim Proteinabbau entsteht, als Harnstoff ausgeschieden werden kann. Da dieses einfache Molekül sowohl Kohlenstoff als auch Stickstoff enthält und wahrscheinlich schon früh auf der noch unbelebten Erde vorhanden war, betrachten viele Forschende Harnstoff als einen möglichen Vorläufer für komplexere Biomoleküle.
„In unserer Studie zeigen wir einen Weg, wo und wie Harnstoff auf der präbiotischen Erde entstanden sein könnte“, sagt Signorell – „nämlich dort, wo Wassermoleküle mit atmosphärischen Gasen wechselwirken: an der Wasseroberfläche“.

Bislang war unklar, wie Harnstoff auf der frühen Erde entstanden sein könnte
Reaktor am Rand des Tröpfchens
Signorells Team untersuchte winzige Wassertröpfchen, wie sie in Meeresgischt oder feinem Nebel vorkommen. Sie machten eine bemerkenswerte Entdeckung: Harnstoff kann sich unter normalen Umgebungsbedingungen spontan aus Kohlenstoffdioxid und Ammoniak bilden, und zwar in der Oberflächenschicht dieser Wassertröpfchen. Es ist die physikalische Grenze zwischen Luft und Flüssigkeit an der Wasseroberfläche, die ein einzigartiges chemisches Milieu schafft und diese spontane Reaktion überhaupt erst möglich macht.
Ein Wassertröpfchen hat im Verhältnis zu seinem Volumen eine sehr große Oberfläche. Das bedeutet, dass chemische Reaktionen hauptsächlich in der Nähe dieser Oberfläche ablaufen. In diesem Bereich entstehen chemische Konzentrationsgefälle, die wie ein mikroskopischer Reaktor wirken. Konkret schafft der pH-Gradient an der Grenzschicht der Wassertröpfchen die notwendige saure Umgebung. Diese Bedingungen begünstigen unkonventionelle Reaktionswege, die sonst in reinen Flüssigkeiten nicht stattfinden würden.
„Der bemerkenswerte Aspekt dieser Reaktion ist, dass sie unter Umgebungsbedingungen abläuft – ohne zugesetzte Energie“, erklärt Mercede Mohajer Azizbaig, eine der beiden Erstautor:innen. Dies macht den Prozess nicht nur aus technischer Perspektive interessant, sondern liefert auch wertvolle Hinweise auf Vorgänge, die für die Evolution bedeutend sein könnten.
Ein Fenster zur Frühzeit der Erde
Zum Ursprung des Lebens wird aktuell ausgiebig geforscht, wobei unterschiedliche Ansätze im Fokus stehen. Erstautor Pallab Basuri führt aus: „Bei einem so umstrittenen Forschungsfeld war für uns wichtig, die Beobachtungen zusätzlich zu untermauern.“ Die experimentellen Ergebnisse des Forschungsteams wurden durch theoretische Berechnungen der Mitautoren Evangelos Miliordos und Andrei Evdokimov von der Universität Auburn untermauert. Diese Berechnungen bestätigten, dass die Harnstoffreaktion auf den Tröpfchen spontan und ohne externe Energiezufuhr ablaufen kann.
Die gewonnenen Erkenntnisse legen nahe, dass dieser natürliche Reaktionsweg auch in der Atmosphäre der frühen Erde möglich gewesen sein könnte. Damals war die Atmosphäre reich an CO₂ und enthielt vermutlich geringe Spuren von Ammoniak. In solch einer Umgebung hätten wässrige Aerosole oder Nebeltröpfchen als natürliche Reaktoren fungieren können, in denen sich Vorläufermoleküle wie Harnstoff bildeten. „Unsere Studie zeigt, wie scheinbar banale Grenzflächen zu dynamischen Reaktionsräumen werden – ein Hinweis, dass der Ursprung biologischer Moleküle gewöhnlicher sein könnte, als lange vermutet“, sagt Signorell.
Die direkte Reaktion von CO₂ und Ammoniak unter Umgebungsbedingungen könnte langfristig auch Potential zur klimafreundlichen Produktion von Harnstoff und Folgeprodukten haben.
Quelle
Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH Zürich) (06/2025)