Viren haben die Fähigkeit perfektioniert, Wirtszellen zu übernehmen: Sie neutralisieren die zelluläre Abwehr und missbrauchen die Maschinerie der Zelle für ihre eigene erfolgreiche Vermehrung. Beispielsweise hemmen das Herpes-simplex-Virus 1, das für Bläschenausschläge verantwortlich ist, sowie Grippeviren gezielt einen zentralen Schritt der Transkriptionstermination, bei der die Herstellung von RNA-Molekülen beendet wird. Diese Blockade führt zur Entstehung unnatürlich langer RNA-Moleküle, die nicht in Proteine umgewandelt werden können. Dadurch wird die antivirale Abwehr der Zellen unterdrückt, was ideale Voraussetzungen für die Virusreplikation schafft.
Allerdings sind menschliche Zellen dieser viralen Sabotage laut einer neuen Studie nicht schutzlos ausgeliefert. Die Zellen erkennen die gestörte Transkriptionstermination als Alarmsignal. Daraufhin aktivieren sie ein „Selbstzerstörungsprogramm“ und opfern sich, noch bevor sich das Virus vermehren kann. Auf diese Weise können die Zellen die Ausbreitung der Infektion bereits im Anfangsstadium unterbinden. Diese Erkenntnisse stammen von einem internationalen Forschungsteam aus Philadelphia (USA), Charlestown (USA), Chengdu (China) und Hannover.
Evolution hat virale Sabotage in Abwehr verwandelt
Das Forschungsteam entdeckte, dass die unnatürlich langen RNA-Moleküle eine charakteristische Struktur annehmen, indem sie sich zu linksdrehenden Doppelsträngen, den sogenannten Z-RNAs, verdrillen. Diese ungewöhnlichen RNA-Formen werden vom zellulären Protein ZBP1 erkannt, was daraufhin den kontrollierten Zelltod auslöst. Besonders interessant ist, dass Z-RNAs sich vorrangig in Abschnitten der verlängerten RNA-Moleküle bilden. Diese Abschnitte stammen unter anderem von Resten früherer Virusinfektionen. Diese normalerweise inaktiven Bereiche unseres Genoms werden erst infolge der virusbedingten Störung der Transkriptionstermination in RNA transkribiert.
„Unsere Zellen nutzen also ausgerechnet jene genetischen Überreste uralter Virusinfektionen, um aktuelle Virusangriffe zu erkennen und abzuwehren“, erklärt Prof. Lars Dölken, einer der Autoren der Arbeit. Damit kehrt die Evolution die Vorzeichen um: Was ursprünglich als virale Invasion in unser Genom gelangte, fungiert heute als wichtiges Alarmsignal für die antivirale Immunabwehr. Diese Entdeckung veranschaulicht eindrücklich, wie tief die Verflechtung von Virus und Wirt über Jahrmillionen gewachsen ist – und wie unsere Zellen in der Lage sind, virale Sabotage in hochwirksame Schutzstrategien zu transformieren.
Neue Perspektiven für Therapien
Die gemachte Entdeckung hat eine weitreichende Bedeutung, die über reine Virusinfektionen hinausgeht. Es ist bekannt, dass unnatürlich lange RNA-Moleküle, die durch eine gestörte Transkriptionstermination entstehen, auch bei zellulären Stressreaktionen und Krebs auftreten. Daher könnte diese Erkenntnis neue therapeutische Strategien anregen.
Zukünftig wäre es denkbar, Medikamente einzusetzen, welche gezielt die Entstehung von Z-RNAs fördern oder deren Erkennung beeinflussen. Solche Ansätze könnten dazu dienen, die Immunabwehr zu stärken, Autoimmunerkrankungen zu behandeln, Impfstoffe zu verbessern oder Krebsimmuntherapien zu optimieren – beispielsweise, indem sie Tumorzellen zur Selbstzerstörung veranlassen.
Die zugrundeliegenden Forschungen werden im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs ACME (Activation of Cellular Anti-Microbial Effectors) fortgesetzt, in dem Forschende nach neuen zelleigenen Abwehrmechanismen gegen Viren und Bakterien suchen und gleichzeitig den wissenschaftlichen Nachwuchs ausbilden.
Quelle
Medizinische Hochschule Hannover (10/2025)
Publikation
Yin et al., Host cell Z-RNAs activate ZBP1 during virus infections. Nature (2025)
https://www.nature.com/articles/s41586-025-09705-5