Wie Moleküle kommunizieren – und wie wir das messen

26. August 2025

Einem internationalen Forschungsteam unter der Leitung der Universität Wien ist es gelungen, eine Methode zu entwickeln, mit der sich Partialladungen in Molekülen direkt messen lassen. Diese Messung war bisher nicht möglich, obwohl Partialladungen eine zentrale Rolle in der Chemie und Biologie spielen. Sie beschreiben minimale Ungleichgewichte in der Elektronenverteilung von Molekülen und bestimmen, wie diese miteinander interagieren und reagieren. Diese Ladungsverschiebungen sind quasi die „Sprache“ der Moleküle, die ihr Verhalten, ihre Funktionen und ihre Reaktivität steuert.

Die Ergebnisse der Forschung könnten in verschiedenen Bereichen Anwendung finden. In der Medizin könnten sie beispielsweise dazu beitragen, die therapeutische Wirkung und die Nebenwirkungen von Medikamenten besser zu verstehen, da Partialladungen deren Aufnahme, Verteilung und Stoffwechsel beeinflussen. Auch in der Materialwissenschaft könnten die Erkenntnisse zu neuen Entwicklungen führen. Die direkte Messung der Partialladungen eröffnet damit völlig neue Einblicke in die elektrostatischen Kräfte, die allen chemischen und biologischen Prozessen zugrunde liegen.

Durchbruch bei der Messung molekularer Ladungen

Ein Forschungsteam um Tim Grüne und Christian Schröder von der Universität Wien hat jetzt eine Methode entwickelt, mit der sich Partialladungen experimentell bestimmen lassen. „Wir haben Elektronenbeugung eingesetzt“, erklärt Grüne. „Dabei wird ein feiner Elektronenstrahl auf einen winzigen Kristall gerichtet. Da Elektronen geladen sind, reagieren sie empfindlich auf das elektrostatische Potenzial im Kristall und somit auf die Partialladungen der Atome. Die daraus resultierenden geringfügigen Ablenkungen des Strahls wurden mit einer neuen Kamera aufgezeichnet, die am Paul Scherrer Institut in der Schweiz entwickelt wurde.“

Die Forschenden kombinierten die Beugungsdaten mit einer neuen Analysemethode, die als ionic scattering factor modeling (iSFAC) bezeichnet wird. Bei diesem Verfahren wird jedes Atom im Molekül sowohl als neutrales als auch als geladenes Teilchen modelliert. Durch den Abgleich dieses Modells mit den experimentell erhobenen Daten konnten die Wissenschaftler die Partialladung jedes Atoms quantitativ bestimmen.

„Bisher wurden Partialladungen mit rechnerischen Methoden geschätzt“, sagt Christian Schröder. „Einige davon passen atomare Ladungen an, um das molekulare elektrostatische Potenzial zu reproduzieren. Dieses Verfahren nennt man electrostatic potential-derived charges (ESP charges). Andere Verfahren teilen die Elektronendichte auf die Atome auf. Obwohl diese Ansätze in der Molekülmodellierung weit verbreitet sind, können sie je nach Algorithmus unterschiedliche Werte liefern. Unsere experimentelle Technik stellt nun eine direkte Verbindung her und kann helfen, theoretische Modelle zu validieren und weiterzuentwickeln.“

Breites Anwendungsspektrum

Um die breite Anwendbarkeit ihrer neuen Methode zu demonstrieren, analysierten die Forscher eine Vielzahl von kristallinen Substanzen. Darunter befanden sich der industrielle Katalysator ZSM-5, die Aminosäuren Tyrosin und Histidin, Weinsäure aus österreichischem Wein sowie das weit verbreitete Antibiotikum Ciprofloxacin. Besonders interessant war die Analyse von Ciprofloxacin, einem unentbehrlichen Arzneimittel, das üblicherweise als Hydrochloridsalz verabreicht wird. Die Forscher stellten fest, dass das Chloridion (Cl−) nur etwa 40 Prozent der gesamten negativen Ladung trägt. Dieses Ergebnis unterstreicht, wie stark die Umgebung die lokale Ladungsverteilung eines Moleküls beeinflussen kann.

Neue Impulse für Wirkstoff- und Materialdesign

In den vergangenen Jahren hat die Core Facility für Kristallstrukturanalyse an der Universität Wien maßgeblich zur Weiterentwicklung der Elektronenkristallographie beigetragen. Mit diesem aktuellen Durchbruch geht die Methode über die bloße Bestimmung von Atompositionen hinaus und ermöglicht nun auch die experimentelle Erfassung elektronischer Eigenschaften. Die Fähigkeit, Partialladungen direkt zu messen, eröffnet neue Möglichkeiten in der Wissenschaft. Sie kann zur Entwicklung von Medikamenten mit gezielter Wirkung und weniger Nebenwirkungen beitragen. Ebenso bietet sie Perspektiven für die Herstellung von funktionalen Materialien mit präzise abgestimmten Eigenschaften.

Quelle

Universität Wien (08/2025)

Publikation

Soheil Mahmoudi, Tim Gruene, Christian Schröder, Khalil D. Ferjaoui, Erik Fröjdh, Aldo Mozzanica, Kiyofumi Takaba, Anatoliy Volkov, Julian Maisriml, Vladimir Paunović, Jeroen A. van Bokhoven, Bernhard, K. Keppler. Experimental determination of partial charges with electron diffraction. In Nature.
DOI: 10.1038/s41586-025-09405-0
https://www.nature.com/articles/s41586-025-09405-0

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