Forschende am European XFEL ist es erstmals gelungen, die Bewegung einzelner Atome während einer chemischen Reaktion in der Gasphase in Echtzeit zu verfolgen. Mithilfe extrem kurzer Röntgenblitze konnten sie genau beobachten, wie aus Diiodmethan (CH₂I₂) ein Iodmolekül (I₂) gebildet wird, nachdem die Reaktion durch Infrarotlicht ausgelöst wurde. Dabei konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diese spezifische Reaktion von zwei anderen möglichen Abläufen unterscheiden: der Abspaltung eines einzelnen Iodatoms oder der bloßen Schwingung des Moleküls. Die neuen Erkenntnisse liefern wertvolle Einblicke in grundlegende Reaktionsmechanismen, die bisher experimentell kaum zu erfassen waren.
Einblicke in chemische Reaktionsmechanismen auf Femtosekundenebene
Reaktionen, bei denen kleine Moleküle von größeren abgespalten werden, sind in vielen Bereichen von zentraler Bedeutung – von der Atmosphärenchemie bis zur Katalysatorforschung. Dennoch blieben die genauen Abläufe dieser Prozesse, bei denen Atome Bindungen lösen und neu knüpfen, oft im Verborgenen. Der Grund dafür ist die extreme Geschwindigkeit dieser Vorgänge: Sie finden im Bereich von Femtosekunden statt, also in wenigen Millionstel einer Milliardstel Sekunde.
Am SQS-Instrument des European XFEL wurde nun ein innovativer Ansatz genutzt, um diese Dynamik sichtbar zu machen. Die Forschenden bestrahlten Diiodmethan-Moleküle mit ultrakurzen Infrarot-Laserpulsen, die die Reaktion auslösten. Nur wenige Femtosekunden später zerschlugen intensive Röntgenblitze die Moleküle in ihre atomaren Bestandteile, die dann durch eine Coulomb-Explosion auseinanderflogen.
Die Flugbahnen und Geschwindigkeiten der Ionen wurden anschließend von einem Nachweisgerät namens COLTRIMS-Reaktionsmikroskop (COLd Target Recoil Ion Momentum Spectroscopy) aufgenommen – eines der Nachweisgeräte an der SQS-Experimentierstation, das den Nutzern zur Verfügung gestellt wird. „Mit dieser Methode konnten wir genau verfolgen, wie die Iodatome zusammenfinden, während die Methylengruppe abgespalten wird“, erklärt Artem Rudenko von der Kansas State University, USA, Leiter des Experimentes. Die Analyse offenbarte, dass sowohl synchrone als auch asynchrone Mechanismen zur Bildung des Iodmoleküls beitragen – ein Ergebnis, das frühere theoretische Modelle bestätigt und verfeinert.
In Echtzeit und mit atomarer Präzision
Bemerkenswert: „Obwohl dieser Reaktionsweg nur etwa zehn Prozent der entstehenden Produkte ausmacht, gelang es, diesen klar von konkurrierenden Reaktionen abzugrenzen“, erläutert Rebecca Boll von der Experimentierstation SQS (Small Quantum Systems) von European XFEL in Schenefeld bei Hamburg. Möglich wurde dies durch die präzise Auswahl bestimmter Ionenfragmente und deren zeitlich aufgelöste Analyse.
Darüber hinaus konnten die Forschenden die Schwingungsbewegungen des neu gebildeten Iodmoleküls verfolgen. „Nun können wir in einem isolierten Molekül genau beobachten, wie bei der chemischen Reaktion Bindungen brechen und neu geknüpft werden – in Echtzeit und mit atomarer Präzision“, sagt Xiang Li, der Erstautor der Publikation. Diese Forschung stellt einen entscheidenden Schritt dar, um chemische Prozesse grundlegend zu verstehen. Die Beobachtungen bieten nicht nur ein detailliertes Bild der Reaktionsmechanismen, sondern eröffnen auch neue Möglichkeiten für die Untersuchung komplexerer chemischer Abläufe.
Zukünftig sollen diese Methoden auf größere Moleküle und kompliziertere Reaktionen ausgeweitet werden. Geplante technische Verbesserungen des European XFEL-Röntgenlasers werden es ermöglichen, noch schnellere und präzisere Einblicke in die ultraschnelle Moleküldynamik zu erhalten.
Quelle
Publikation
Li, X., Boll, R., Vindel-Zandbergen, P. et al., Imaging a light-induced molecular elimination reaction with an X-ray free-electron laser. Nat Commun 16, 7006 (2025). doi10.1038/s41467-025-62274-z
https://www.nature.com/articles/s41467-025-62274-z