Wie ein winziges Gen das Überleben männlicher Vögel sichert

28. Juli 2025

Forschende der Universitäten Heidelberg und Edinburgh haben eine einzigartige evolutionäre Lösung bei Vögeln entdeckt, die das Überleben männlicher Embryonen trotz eines genetischen Ungleichgewichts zwischen den Geschlechtern sichert. Eine spezifische Mikro-RNA balanciert dabei die Aktivität der Geschlechtschromosomen aus. Dieser bislang unbekannte Mechanismus unterscheidet sich grundlegend vom System der Säugetiere und liefert neue Einblicke in die evolutionäre Bewältigung genetischer Herausforderungen.

Geschlechtschromosomen und evolutionäre Kompensationsmechanismen

Die Geschlechtschromosomen, die das Geschlecht eines Individuums bestimmen, entwickelten sich aus einem ursprünglichen Chromosomenpaar. Bei Säugetieren besitzen Weibchen zwei X-Chromosomen, während Männchen ein X- und ein Y-Chromosom haben. Bei Vögeln ist die Situation umgekehrt: Männchen verfügen über zwei Z-Chromosomen, Weibchen über ein Z- und ein W-Chromosom. Im Laufe der Evolution haben das Säugetier-Y- und das Vogel-W-Chromosom aufgrund ihrer spezialisierten geschlechterspezifischen Funktionen einen Großteil ihrer Gene verloren. Dies führt dazu, dass ein Geschlecht jeweils zwei Kopien der meisten Gene besitzt, während das andere Geschlecht nur eine Kopie aufweist. Säugetiere gleichen dieses genetische Ungleichgewicht aus, indem sie die Aktivität des X-Chromosoms bei beiden Geschlechtern verstärken und eines der beiden X-Chromosomen bei weiblichen Individuen „stilllegen“.

Vogelmännchen und das Z-Chromosom: Eine Mikro-RNA als Retter

Ein internationales Forschungsteam hat anhand von Hühnern entschlüsselt, wie Vögel mit dem Ungleichgewicht der Geschlechtschromosomen umgehen. Während bei Vogelweibchen der Verlust von Erbmaterial auf dem W-Chromosom durch eine erhöhte Aktivität wichtiger Gene des Z-Chromosoms ausgeglichen wird, führt diese kompensatorische Aktivität bei Männchen mit zwei Z-Chromosomen ohne weiteren Ausgleich zu genetischer Überaktivität und Wachstumsstörungen. Die Wissenschaftler um Prof. Dr. Henrik Kaessmann (Universität Heidelberg) und Dr. Mike McGrew (University of Edinburgh) vermuteten, dass eine bereits bekannte Mikro-RNA – eine kurze, regulierende Ribonukleinsäure – hierbei eine entscheidende Rolle spielt.

„Diese Mikro-RNA ist hauptsächlich in männlichen Vögeln aktiv. Daher lag die Annahme nahe, dass sie dabei hilft, die Aktivität des Z-Chromosoms auszugleichen“, erklärt Prof. Henrik Kaessmann vom Heidelberger Zentrum für Molekulare Biologie (ZMBH). Um diese Hypothese zu überprüfen, entfernten die Forschenden die Mikro-RNA mittels Geneditierung und beobachteten die Auswirkungen auf die frühe Entwicklung von Hühnern. Während männliche Embryonen ohne diese Mikro-RNA nicht überlebten, entwickelten sich weibliche Tiere normal. Laut den Wissenschaftlern findet sich dieses winzige Gen bei allen untersuchten Vogelarten, aber nicht bei anderen Tiergruppen. Dr. Amir Fallahshahroudi, ehemaliger Postdoktorand in Kaessmanns Team und jetzt Gruppenleiter an der Universität Uppsala, betont: „Es ist die einzige bekannte Mikro-RNA, die für das Überleben eines Geschlechts, nicht aber des anderen, entscheidend ist“

Laut Dr. Mike McGrew wirkt die männlich-spezifische Mikro-RNA bei Vögeln wie ein „Dimmer“, der die überaktiven Gene auf den beiden männlichen Z-Chromosomen herunterregelt. „Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass Vögel eine einzigartige evolutionäre Lösung entwickelt haben, um das genetische Ungleichgewicht der Geschlechtschromosomen auszubalancieren und den Fortbestand der männlichen Tiere zu sichern“, betont er. Dies unterstreicht, dass die Evolution unterschiedliche Lösungen für dieselbe biologische Herausforderung hervorbringt und dass winzige Gene enorme Auswirkungen auf das Überleben haben können. Prof. Henrik Kaessmann wirft die Frage auf, ob auch andere Tierarten Mikro-RNAs zur Regulierung ihrer Geschlechtschromosomen nutzen oder gänzlich andere Systeme entwickelt haben.

Quelle

Universität Heidelberg (07/2025)

Publikation

A. Fallahshahroudi, S. Yousefi Taemeh, L. Rodríguez-Montes, N. Trost, D. Frank, P. Lafrenz, J. Koubek, G. Tellez, M. Ballantyne, A. Idoko-Akoh, L. Taylor, A. Sherman, M. Davey, C. Ma, E. Sorato, M. Johnsson, C. Grozou, Y. Xue, L. Liu, G. Kramer, C.-J. Rubin, M. Cardoso-Moreira, M. J. McGrew, H. Kaessmann: A male-essential miRNA is key for avian sex chromosome dosage compensation. Nature (published online 16 July 2025), DOI: 10.1038/s41586-025-09256-9
https://www.nature.com/articles/s41586-025-09256-9

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