Forschende am Paul Scherrer Institut (PSI) haben einen entscheidenden Mechanismus entschlüsselt, durch den das körpereigene Molekül Spermin Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson vorbeugt. Dieses kleine Molekül, das eine Vielzahl zellulärer Prozesse reguliert, macht bestimmte schädliche Eiweiße unschädlich. Die Wissenschaftler beschreiben die Wirkweise dabei anschaulich: Spermin verklebt diese Eiweiße ähnlich wie Käse, der Nudeln miteinander verbindet. Diese bahnbrechende Erkenntnis könnte einen neuen Ansatzpunkt für die Bekämpfung dieser Krankheiten darstellen.
Angesichts der steigenden Lebenserwartung nehmen altersbedingte Leiden, darunter neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson, immer häufiger zu. Die Ursache dieser Gehirnerkrankungen sind schädliche Eiweißstrukturen, die sich als Ablagerungen bilden. Diese Strukturen bestehen aus falsch gefalteten sogenannten Amyloidproteinen, deren Form an Fasern oder Spaghetti erinnert. Bisher fehlt es an effektiven Therapien, um diese Ablagerungen zu verhindern oder aufzulösen.
Das körpereigene Molekül Spermin weckt jedoch große Hoffnungen. Unter der Leitung von Jinghui Luo vom Zentrum für Life Sciences des PSI zeigten Experimente, dass diese Substanz in der Lage ist, die Lebensdauer kleiner Fadenwürmer zu verlängern, ihre Bewegungsfähigkeit im Alter zu verbessern und die Mitochondrien – die „Kraftwerke“ der Zellen – zu stärken. Insbesondere beobachteten die Forschenden, dass Spermin die körpereigene Abwehr aktiv dabei unterstützt, die nervenschädigenden Ablagerungen der Amyloidproteine zu entsorgen und so unschädlich zu machen.
Die neuen Erkenntnisse könnten als Grundlage dafür dienen, neue Therapien gegen solche Erkrankungen zu entwickeln.
Ein zentraler Vermittler für Zellvorgänge
Spermin ist ein für den Organismus lebenswichtiger Stoff, der zur Gruppe der sogenannten Polyamine gehört, relativ kleiner organischer Moleküle. Obwohl Spermin nach der Samenflüssigkeit benannt ist, da es dort in besonders hoher Konzentration vorkommt und vor über 150 Jahren erstmals entdeckt wurde, ist es auch in vielen Zellen des Körpers enthalten, insbesondere in jenen, die aktiv und teilungsfähig sind.
Innerhalb der Zelle fördert Spermin die Mobilität und Aktivität und steuert eine Vielzahl von Prozessen. Seine zentrale Rolle liegt in der Interaktion mit den Nukleinsäuren des Erbguts, wodurch es die Genexpression – also das Auslesen der Gene und deren Umsetzung in Proteine – reguliert. Dies ist fundamental für das korrekte Wachsen, die Teilung und schließlich das Absterben von Zellen. Darüber hinaus ist Spermin von zentraler Bedeutung für einen wichtigen zellulären Vorgang, der als biomolekulare Kondensation bekannt ist: Hierbei entmischen sich bestimmte Makromoleküle, wie Proteine und Nukleinsäuren, und sammeln sich innerhalb der Zelle zu tropfenartigen Kompartimenten an, in denen wichtige chemische Reaktionen effizient ablaufen können.
Bereits vor den jüngsten Erkenntnissen gab es im Kontext neurodegenerativer Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson Hinweise darauf, dass Spermin Nervenzellen schützen und altersbedingten Gedächtnisverlust mildern kann. Allerdings fehlte bislang ein genaueres Verständnis dafür, wie das Molekül tatsächlich in die nervenschädigenden Prozesse eingreift, was jedoch eine Voraussetzung dafür ist, daraus einen medizinischen Nutzen zu ziehen.
Unterstützung für die zelluläre Müllabfuhr
Die Forschungsgruppe um Jinghui Luo führte detaillierte Untersuchungen durch, um den Mechanismus der Spermin-Wirkung genauer zu entschlüsseln. Neben der klassischen Lichtmikroskopie setzten die Forschenden auch das Streumessverfahren SAXS (Small-Angle X-ray Scattering) an der PSI-eigenen Synchrotron Lichtquelle Schweiz (SLS) ein. Mit dieser Technik konnten sie die molekulare Dynamik der Abläufe präzise beleuchten. Die Untersuchungen fanden sowohl in vitro (in einer Glaskapillare) als auch in vivo (im lebenden Organismus) statt, wobei der Fadenwurm C. elegans als Modellorganismus diente.
Die Ergebnisse zeigten, dass Spermin die schädlichen Proteine über den Prozess der biomolekularen Kondensation sammelt und gewissermaßen verklumpt. Diese Verklumpung ist ein entscheidender vorbereitender Schritt, der einen Prozess namens Autophagie erleichtert. Autophagie läuft routinemäßig in unseren Zellen ab und fungiert als natürlicher Recyclingvorgang: Dabei werden beschädigte oder unnötige Proteine in kleine Membranbläschen eingehüllt und anschließend mithilfe von Enzymen sicher abgebaut.
„Die Autophagie kann mit grösseren Proteinklumpen effektiver umgehen“, sagt Studienleiter Luo. „Und Spermin ist sozusagen das Bindemittel, das die Stränge zusammenbringt. Es handelt sich um nur schwach anziehende elektrische Kräfte zwischen den Molekülen, die diese organisieren, nicht aber fest verbinden.“
Das Ganze kann man sich auch vorstellen wie einen Teller Spaghetti. „Das Spermin ist wie Käse, der die langen dünnen Nudeln miteinander verbindet, ohne sie zu verkleben, sodass sie besser verdaulich sind.“
Gesucht ist die richtige Kombination von Zutaten
Das Molekül Spermin hat nicht nur Einfluss auf neurodegenerative Erkrankungen, sondern nimmt auch auf andere Krankheitsbilder wie etwa Krebs Einfluss. Für die Entwicklung potenzieller Therapieansätze auf der Basis von Spermin ist jedoch zunächst noch weitere Forschung erforderlich, um die dabei wirksamen molekularen Mechanismen vollständig aufzuklären. Darüber hinaus weist die Forschungsgruppe darauf hin, dass neben Spermin noch eine Vielzahl weiterer Polyamine existiert, die ebenfalls essenzielle Funktionen im Organismus erfüllen und daher von großem medizinischem Interesse sind. Das Forschungsgebiet bietet somit noch erhebliches Potenzial. „Wenn wir die zugrunde liegenden Vorgänge besser verstehen“, sagt Luo, „können wir sozusagen leckerere und besser verdauliche Gerichte kochen, weil wir dann genau wissen, welche Gewürze in welcher Dosis die Sauce besonders schmackhaft machen.“
Auf dieser Suche kommt auch künstliche Intelligenz zum Einsatz, die auf Basis aller verfügbaren Daten deutlich schneller vielversprechende Kombinationen von „Zutaten für die Sauce“ berechnen kann. Wichtig für diese sowie folgende Studien, so Luo, seien zudem zeitaufgelöste Streumessverfahren sowie hochauflösende Bildgebung, die solche Vorgänge in Echtzeit und bis hinunter auf die subzelluläre Ebene abbilden können. Ausser am PSI sind solche Methoden nur an wenigen anderen Synchrotronanlagen der Welt verfügbar.
Quelle
Paul Scherrer Institut PSI (11/2025)
Publikation
Spermine Modulation of Alzheimer’s Tau and Parkinson’s α-Synuclein: Implications for Biomolecular Condensation and Neurodegeneration
Xun Sun, Debasis Saha, Xue Wang, Cecilia Mörmann, Rebecca Stemke-Hoffmann, Juan Atilio Gerez, Fátima Herranz, Roland Riek, Wenwei Zheng, Jinghui Luo
Nature Communications, 21.11.2025
DOI: 10.1038/s41467-025-65426-3