Wenn das Spiegelbild tötet

14. August 2025

Wissenschaftler:innen der Universitäten Marburg und Genf haben eine spannende Entdeckung im Bereich der Krebsforschung gemacht: Sie nutzen eine Spiegelbild-Substanz, um das Wachstum von Tumorzellen gezielt zu hemmen. Viele Substanzen in der Natur treten in zwei spiegelbildlichen Formen auf, wie zum Beispiel die bekannte links- und rechtsdrehende Milchsäure. Das Forschungsteam hat sich nun auf die Aminosäure D-Cystein konzentriert, die das Spiegelbild der natürlichen, schwefelhaltigen Aminosäure L-Cystein ist.

Während L-Cystein von den Zellen zur Herstellung von Proteinen genutzt wird, kann D-Cystein diese Funktion nicht übernehmen. Stattdessen haben die Forscher:innen herausgefunden, dass D-Cystein für Krebszellen toxisch ist. Die Genfer Gruppe um Professor Jean-Claude Martinou stellte fest, dass D-Cystein nur bei Tumorzellen wirkt, die einen bestimmten Cysteintransporter verstärkt auf ihrer Zelloberfläche besitzen. Dieser Transporter, der den Tumorzellen normalerweise einen Wachstumsvorteil verschafft, indem er L-Cystein aufnimmt, wird hier zum Einfallstor für die spiegelbildliche Substanz.

Der Mechanismus der Tumorzellhemmung

Die Marburger Forschungsgruppe um Professor Roland Lill hat den genauen Mechanismus aufgeklärt, wie D-Cystein die Tumorzellen abtötet. Sie fanden heraus, dass D-Cystein ein wichtiges Enzym blockiert, das den Schwefel aus L-Cystein in lebenswichtige Eisen-Schwefel-Proteine einbaut. Diese Proteine sind an vielen essenziellen Zellfunktionen beteiligt, wie etwa der DNA-Synthese. Da die Zelle ohne funktionsfähige Eisen-Schwefel-Proteine nicht überleben kann, wird ihr Wachstum gestoppt und sie stirbt ab.
Diese Forschungsergebnisse eröffnen vielversprechende Perspektiven für neue Krebstherapien, die auf der gezielten Nutzung von Spiegelbild-Molekülen basieren.

Die Forschungsgruppen konnten im Detail zeigen, wie D-Cystein das Schwefel-freisetzende Enzym blockiert. Vereinfacht ausgedrückt, übergibt das natürliche L-Cystein seinen Schwefel mit der „linken Hand“ an das Enzym. Beim Spiegelbild D-Cystein befindet sich der Schwefel jedoch in der „rechten Hand“ und ist somit zu weit von der Empfängerposition im Enzym entfernt. Dies blockiert die Übertragung des Schwefels vollständig, sodass keine Eisen-Schwefel-Proteine mehr gebildet werden können.

„Die Untersuchungen könnten Relevanz für die Tumortherapie bekommen“, kommentiert Lill. Erste Versuche an Mäusen haben gezeigt, dass D-Cystein das Wachstum von Tumoren auch am lebenden Tier signifikant hemmen kann. Jetzt wollen die Forschenden testen, ob und wie die Substanz bei Krebserkrankungen eingesetzt werden kann.

Quelle

Philipps-Universität Marburg (08/2025)

Publikation

Roland Lill, Oliver Stehling, Jean-Claude Martinou, et al, Cysteine impairs tumour growth by inhibiting cysteine desulfurase NFS1, Nature Metabolism (DOI: https://doi.org/10.1038/s42255-025-01339-1)

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