Ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung der Universitäten Wien und Wisconsin-Madison hat erstmals das Genom der Asselspinne (Pycnogonum litorale) nahezu vollständig auf Chromosomenebene entschlüsselt. Diese Entdeckung liefert entscheidende Einblicke in die Entwicklung ihres außergewöhnlichen Körperbaus und die frühe Stammesgeschichte der Spinnentiere.
Asselspinnen, wissenschaftlich als Pycnogonida bekannt, sind meeresbewohnende Gliederfüßer (Arthropoden) mit einer einzigartigen Anatomie: Ihr zentraler Rumpf ist stark reduziert, während sich große Teile der inneren Organe in ihre ungewöhnlich langen Beine erstrecken und der Hinterkörper kaum ausgeprägt ist. Sie gehören, wie Spinnen, Skorpione, Milben und Pfeilschwanzkrebse, zur Gruppe der Chelicerata – charakterisiert durch ihre Kieferklauen.
Der bizarre Körperbau dieser „No-body“-Asselspinnen wirft faszinierende Fragen auf: Welche genetischen Grundlagen stecken hinter dieser extremen Körperform? Und was lässt sich daraus über ihre evolutionäre Entwicklung ableiten? Ein detaillierter Blick in ihr Genom liefert nun erste Antworten.
Genom mit Tiefenschärfe
Für die aktuelle Studie hat das Forschungsteam das Erbgut eines einzelnen Exemplars von Pycnogonum litorale mittels einer Kombination modernster Sequenziertechnologien analysiert. Zunächst nutzten sie die Langsequenzierung, die es ermöglicht, besonders lange DNA-Abschnitte zu lesen. Diese Technik ist entscheidend, um auch komplexe oder sich wiederholende Bereiche des Genoms korrekt zusammenzusetzen.
Ergänzend dazu wurde untersucht, welche DNA-Abschnitte im Zellkern räumlich nah beieinander liegen. Diese Informationen sind von großer Bedeutung für die präzise Rekonstruktion der Genomstruktur. Das Ergebnis war eine nahezu vollständige „Genom-Assemblierung“ in einer bisher unerreichten Detailtiefe: Das gesamte Erbgut wurde strukturiert bis auf die Ebene von 57 Pseudochromosomen zusammengesetzt. Die Analysen wurden zusätzlich durch neue Daten zur Genaktivität in verschiedenen Entwicklungsstadien ergänzt, um ein umfassendes Bild zu erhalten. „Erst durch die Kombination dieser modernen Hochdurchsatzverfahren konnten wir ein Genom dieser ungewöhnlichen Tiere so vollständig und strukturiert aufbereiten, dass es als solide Referenz für weiterführende Analysen dient“, erklärt Nikolaos Papadopoulos vom Department für Evolutionsbiologie der Universität Wien.
Genverlust mit Folgen
Besondere Aufmerksamkeit widmete das Team dem sogenannten Hox-Cluster – das ist eine evolutionär konservierte Genfamilie im Tierreich. „Innerhalb der Gliederfüßer kommt den Hox-Genen eine zentrale Rolle bei der richtigen Ausdifferenzierung der Körpersegmente zu, aber auch in anderen Tiergruppen sind sie essentielle „master controller“ für die Entwicklung des Körperbauplans“, erläutert Andreas Wanninger, einer der Mitinitiatoren des Projekts am Department für Evolutionsbiologie an der Universität Wien.
Das Resultat der neuen Analyse: Das Genom von Pycnogonum litorale weist eine bemerkenswerte Besonderheit auf: Es fehlt das Gen abdominal-A (abdA), welches typischerweise an der Entwicklung des Hinterkörpers beteiligt ist. Dieser Genverlust könnte direkt mit der drastischen Reduktion des hinteren Körperabschnitts im Laufe der Evolution der Asselspinne zusammenhängen. Ähnliche Zusammenhänge zwischen dem Verlust von Hox-Genen und der Verringerung von Körpersegmenten sind bereits von anderen Gliederfüßern bekannt, beispielsweise bei bestimmten Milben oder Rankenfußkrebsen. Die neuen genetischen Daten der Asselspinne liefern somit ein weiteres Beispiel für diesen wiederholt auftretenden evolutionären Zusammenhang.
Von Verdopplung keine Spur
Das Genom der Asselspinne (Pycnogonum litorale) liefert spannende Einblicke in die Evolution der Gliederfüßer. Im Gegensatz zu Spinnen und Skorpionen, deren Erbgut Hinweise auf frühere Genomverdopplungen zeigt, wurden bei der Asselspinne keinerlei Spuren solcher Duplikationen gefunden. Da Asselspinnen eine sehr früh abzweigende Linie innerhalb der Kieferklauenträger (Chelicerata) darstellen, legt dies nahe, dass diese tiefgreifenden genomischen Umstrukturierungen erst später in einzelnen Untergruppen der Chelicerata entstanden sind und nicht bereits im gemeinsamen Ursprung der gesamten Gruppe.
Ein neues Referenzgenom
Die nun entschlüsselte Genomsequenz der Asselspinne (Pycnogonum litorale) bietet erstmals eine hochwertige molekulare Grundlage für vergleichende Studien. Damit wird die Asselspinne zu einem wichtigen Referenzorganismus, um die genauen Verwandtschaftsverhältnisse und die Evolution der Körperbaupläne bei Spinnentieren zu klären. Zudem kann das neue Wissen dazu beitragen, die genetischen Mechanismen zu entschlüsseln, die die enorme Vielfalt der Gliederfüßer geprägt haben. „Asselspinnen sind entwicklungsgeschichtlich besonders interessant, weil sie einige für Arthropoden anzestrale Merkmale mitbringen, zugleich aber auch etliche evolutionäre Neuerungen in ihrem Körperbau aufweisen“, sagt Georg Brenneis vom Department für Evolutionsbiologie der Universität Wien und Letztautor der Studie. „Die nun verfügbare Genomsequenz erlaubt es uns erstmals, diese und weitere Besonderheiten – so wie ein für Gliederfüßer außergewöhnliches Regenerationsvermögen – systematisch auf molekularer Ebene zu untersuchen.“
Diese Referenzsequenz werden die Forschenden als Grundlage für weitere Studien zur Genregulation und Embryonalentwicklung bei Cheliceraten nutzen, um die evolutionären Prozesse hinter der Formenvielfalt dieser Tiergruppe besser zu verstehen.
Quelle
Publikation
Nikolaos Papadopoulos ;Siddharth S. Kulkarni; Christian Baranyi; Bastian Fromm; Emily V.W., Setton; Prashant P. Sharma; Andreas Wanninger; and Georg Brenneis. The genome of a sea spider corroborates a shared Hox cluster motif in arthropods with a reduced posterior tagma. In BMC Biology (2025).
DOI: https://bmcbiol.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12915-025-02276-x