Survival Kit für Pockenviren

8. September 2025

In einer Würzburger Studie wurde eine neuartige Vermehrungstechnik von Pockenviren entdeckt, die es ihnen ermöglicht, sich nach der Infektion einer Wirtszelle schnell auszubreiten. Die gewonnenen Erkenntnisse beleuchten eine bisher unbekannte Funktion eines bereits bekannten Moleküls und könnten somit als vielversprechender Ansatzpunkt für die Entwicklung neuer antiviraler Wirkstoffe dienen.

Im Bereich der Biochemie sind Chaperone unverzichtbare Helfer, die neu gebildeten Proteinen bei der korrekten Faltung assistieren und das Verklumpen fehlgefalteter Proteinketten verhindern. Eine spezielle Gruppe, die Assembly-Chaperone, sorgt dafür, dass verschiedene Bausteine im Zellinneren zusammengeführt und zu großen Proteinkomplexen geordnet werden. Ohne diese entscheidenden Funktionen wäre das Leben, wie wir es kennen, nicht möglich.

Forschende der Universität Würzburg haben nun eine bisher unbekannte Variante eines Assembly-Chaperons in Pockenviren entdeckt und detailliert untersucht. Das Besondere daran: Es handelt sich um das erste bekannte Chaperon, das nicht aus einem Protein, sondern aus einer Nukleinsäure, genauer gesagt aus einer transfer-RNA (tRNA), besteht. Unter der Leitung von Professor Utz Fischer vom Lehrstuhl für Biochemie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) und in Zusammenarbeit mit Professorinnen Claudia Höbartner und Bettina Warscheid sowie Forschern aus Innsbruck, Hannover und Chicago, gelang diese Entdeckung. Die Ergebnisse dieser Studie könnten eine wertvolle Grundlage für die Entwicklung neuer Wirkstoffe gegen Pockenviren sein.

Wichtige Rolle bei der Genexpression

„Wir haben uns in unserer Studie mit einem großen Proteinkomplex beschäftigt: dem sogenannten complete (oder deutsch: kompletten) vRNAP, einer RNA-Polymerase die man bei Vaccinia, dem prototypischen Pockenvirus findet“, schildert Fischer die Arbeit im Labor. Dieses aus 15 Proteinen und einer RNA bestehende Enzym spielt eine entscheidende Rolle bei der Genexpression, dem Prozess, bei dem Erbinformationen in Proteine übersetzt werden.

Seine zahlreichen Bestandteile übernehmen dabei unterschiedliche Aufgaben: Ein Faktor ist für das Andocken an den Startpunkten (Promotoren) der viralen Gene zuständig, ein anderer ermöglicht das Loslösen von diesen Promotoren, während ein dritter die neu gebildete messenger-RNA modifiziert. „Alles in allem handelt es sich bei diesem Proteinkomplex also um eine Art ‚All-in-One-Unit‘“, erklärt Dr. Julia Bartuli, die den biochemischen Anteil der Studie leitete.

Die Hauptfrage der Forschenden war, wie es möglich ist, so viele Proteine in eine derart hochgeordnete Struktur zu integrieren. Sie wollten herausfinden, wer oder was als „Baumeister“ dieses Komplexes fungiert. „Um das herauszufinden, haben wir einen biochemischen mit einem strukturbiologischen Ansatz kombiniert, um die einzelnen Schritte identifizieren zu können“, so die Biochemikerin.

Entdeckung eines überraschenden Akteurs

Das Forscherteam konnte nachweisen, dass der „Baumeister“ dieses Komplexes ein Assembly-Chaperon ist. Dieses Molekül ändert seine Form, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, und nimmt danach seine ursprüngliche Gestalt wieder an. Überraschend war dabei die Entdeckung, dass dieses Chaperon nicht aus einem Protein, sondern aus RNA besteht. „Normalerweise hat RNA an solchen Stellen nichts zu suchen. Hier sitzt aber eine tRNA zentral zwischen der Polymerase und den assoziierten Faktoren und sorgt für deren Zusammenhalt und Bereitstellung für den Start der Genexpression“, erklärt Dr. Clemens Grimm, der für die Strukturanalyse der Studie verantwortlich war.

Weitere Experimente zur Funktion der tRNA zeigten, dass die anderen Komponenten des Komplexes ohne sie keine Affinität zueinander besitzen und sich nicht selbstständig anordnen könnten. Erst durch die tRNA finden sie in einer bestimmten Abfolge zusammen, wobei die tRNA ihre Struktur ändert. Dieser Prozess führt zur Stabilisierung des gesamten Systems.

Es blieb jedoch die Frage, wofür dieser Komplex überhaupt existiert, da er für die eigentliche Transkription keine direkte Rolle spielt. Um dies zu verstehen, sind tiefere Kenntnisse über Pockenviren erforderlich: „Pockenviren sind DNA-Viren, die niemals in den Zellkern der von ihnen befallenen Zellen gehen. Ihre Vermehrung läuft vielmehr im Zellplasma ab. Das heißt aber auch: Das Virus muss alles dabeihaben, was es benötigt, um die Transkription und damit die eigene Vermehrung zu starten“, erklärt Utz Fischer. Und genau dafür ist complet vRNAP verantwortlich.

Kickstart der Transkription

Der in der Studie beschriebene Komplex wird in einem späten Stadium der Infektion gebildet und in neue Viren integriert. Dort fungiert er als „Kickstart der Transkription“, indem er alle für die anfängliche Infektionsphase notwendigen Komponenten gebündelt bereitstellt. Dies ermöglicht es den Pockenviren, sich in den infizierten Zellen schnell zu vermehren. Man kann diesen Komplex daher als eine Art „Survival Kit“ der Pockenviren bezeichnen. Obwohl die Studie Grundlagenforschung am Vacciniavirus betreibt, sind die Ergebnisse angesichts der aktuellen Entwicklungen in Afrika von großer Bedeutung. Dort treten seit einigen Jahren in mehreren Staaten Mpox-Viren auf, die ehemals als „Affenpocken“ bekannt waren und eng mit dem Vacciniavirus verwandt sind.

Gefährliche Mutationen in Mpox-Viren

Obwohl die Übertragung von Mpox-Viren nur bei engem Körperkontakt erfolgte, blieb die Zahl der Infizierten gering und ist daher nicht mit Viren wie SARS-CoV-2, dem Auslöser der Corona-Pandemie, vergleichbar. Das scheint sich aktuell allerdings zu verändern: „In Afrika lässt sich beobachten, dass das Virus mutiert und neue Übertragungswege findet“, sagt Utz Fischer.

Über Jahrhunderte hinweg galten die klassischen Pocken, ausgelöst durch das Variolavirus, als eine der tödlichsten Krankheiten, die Professor Fischer als den „Killer schlechthin“ bezeichnet. Die Entwicklung von Impfstoffen auf Vaccinia-Basis und weltweite Impfkampagnen führten jedoch dazu, dass die Welt seit 1980 als pockenfrei gilt. Da seitdem nicht mehr gegen Pocken geimpft wird, fehlt heutigen Generationen der Schutz. Sollte ein mutiertes Mpox-Virus auftreten, könnten dringend neue Wirkstoffe zur Bekämpfung der Krankheit erforderlich sein, insbesondere da die Sterblichkeit unter Kindern und Schwangeren vergleichsweise hoch ist.

„Bei der Suche nach neuen Wirkstoffen, können unsere Erkenntnisse helfen“, sind sich Utz Fischer und Clemens Grimm einig. Schließlich verfügt der Komplex über zahlreiche Andockstellen für potenzielle Inhibitoren und eignet sich gut für ein Drug Screening – der systematischen Suche nach neuen Wirkstoffen.

Quelle

Julius-Maximilians-Universität Würzburg (09/2025)

Publikation

tRNA as an assembly chaperone for a macromolecular transcription-processing complex. Julia Bartuli, Stefan Jungwirth, Manisha Dixit, Takumi Okuda, Johannes Patrick Zimmermann, Matthias Erlacher, Tao Pan, Asisa Volz, Alexander Hüttenhofer, Bettina Warscheid, Claudia Höbartner, Clemens Grimm and Utz Fischer. Nature Structural and Molecular Biology, DOI: 10.1038/s41594-025-01653-y, https://www.nature.com/articles/s41594-025-01653-y

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