Im Jahr 2023 erlebte der Amazonas-Regenwald die stärkste Dürre seit Beginn der Aufzeichnungen. Extreme Hitze und Trockenheit führten zu ausgetrockneten Flüssen und setzten die Pflanzen, insbesondere die Bäume und das Unterholz, unter massiven Stress. Als Reaktion darauf schütten Pflanzen vermehrt Monoterpene aus, flüchtige organische Verbindungen, die ihnen zur Kommunikation und Abwehr dienen.
Ein Team von Forschenden des Max-Planck-Instituts für Chemie hat nun eine Methode entdeckt, mit der sich der Stresszustand eines Ökosystems messen lässt. Sie untersuchten das Verhältnis von zwei spiegelbildlichen Molekülen, sogenannten Enantiomeren, des Monoterpens α-Pinen. Unter normalen Bedingungen bleibt das Verhältnis dieser beiden Formen konstant, doch unter Trockenstress verschiebt es sich. In der extremsten Phase der Dürre kehrte sich das übliche Verhältnis sogar um, wobei die (+) α-Pinen-Variante, die aus den Reserven der Pflanze freigesetzt wird, überwog.
Die Messungen vor Ort bestätigten die sichtbaren Anzeichen des Leidens: gelbe Blätter und rissiger Lehmboden. Die Situation wurde durch das Zusammentreffen der Trockenzeit mit einem El Niño-Ereignis verschärft, das im Amazonasbecken zu extrem wenig Regen und hohen Temperaturen führte. Somit dienen die Spiegelmoleküle von α-Pinen als verlässlicher Indikator für den akuten Stress eines Ökosystems.
Messungen mitten im Regenwald
An der Messstation des Amazon Tall Tower Observatory (ATTO), die sich 150 Kilometer nordöstlich von Manaus befindet, sammelten die Forscher:innen in 24 Metern Höhe Luftproben. Diese Proben wurden direkt aus dem Kronendach des Waldes entnommen. Anschließend analysierten die Wissenschaftler:innen im Labor in Mainz mit der Gaschromatographie-Massenspektrometrie das Verhältnis der beiden α-Pinen-Varianten, um den Stresszustand des Waldes zu bestimmen.
„Zunächst bestimmten wir, in welchem Mengenverhältnis die beiden Varianten unter normalen Bedingungen vorkommen“, führt Joseph Byron aus. „Danach beobachteten wir, wie sich dieses Verhältnis während der von El Niño beeinflussten Trockenperiode verschob und sich danach langsam wieder normalisierte.“
Pflanzen im Überlebensmodus
Projektleiter Jonathan Williams kommentiert: „Es ist erstaunlich, dass wir direkt aus der Luft ablesen können, wie der Regenwald auf die aktuellen Bedingungen reagiert. Als sich während der schlimmsten Phase der Dürre mittags das sonst übliche Verhältnis der Spiegelmoleküle umkehrt, war klar: Die Pflanzen stellten die Fotosynthese ein und schlossen ihre Poren, um den Verlust des kostbaren Grundwassers zu verhindern.“ Diese Studie baut auf den Erkenntnissen einer früheren experimentellen Dürrestudie auf, die in einem Gewächshaus durchgeführt wurde. Schon damals fanden die Forscher:innen heraus, dass die beiden spiegelbildlichen α-Pinen-Moleküle auf unterschiedliche Weisen von der Pflanze freigegeben werden: Eine Variante wird unmittelbar nach der Fotosynthese freigesetzt, während das andere Molekül aus den pflanzlichen Speichern stammt. Was im Gewächshaus-Experiment beobachtet wurde, konnte nun unter den realen Dürrebedingungen des Amazonas-Regenwaldes bestätigt werden.
Bedeutung für Klimamodelle
Der Amazonas-Regenwald ist die weltweit größte natürliche Quelle flüchtiger organischer Verbindungen. Das Verhältnis der α-Pinen-Spiegelmoleküle ermöglicht es, die Freisetzung dieser Stoffe und deren Schwankungen unter Dürrebedingungen genauer in Klimamodellen zu erfassen. Diese verbesserte Modellierung ist besonders wichtig, da Wissenschaftler:innen im laufenden Jahrhundert mit einer Zunahme von schweren, durch El Niño ausgelösten Dürreperioden rechnen.
Hintergrund ATTO
Das Amazon Tall Tower Observatory (ATTO) ist ein deutsch-brasilianisches Gemeinschaftsprojekt, das 2009 ins Leben gerufen wurde, um die komplexen Zusammenhänge zwischen dem Amazonas-Regenwald und dem globalen Klima zu erforschen. An diesem Projekt sind auf deutscher Seite die Max-Planck-Institute für Biogeochemie in Jena und für Chemie in Mainz beteiligt. Auf brasilianischer Seite sind das Nationale Institut für Amazonasforschung (INPA) und die Amazonas State University (UEA) in Manaus Partner.
Quelle
Max-Planck-Institut für Chemie (09/2025)
Publikation
Mirror image molecules expose state of rainforest stress
Joseph Byron, Giovanni Pugliese, Carolina de A. Monteiro, Michelle Robin, Eliane Gomes Alves, Johanna Schuettler, S. Christoph Hartmann, Achim Edtbauer, Bianca E. Krumm, Nora Zannoni, Anywhere Tsokankunku, Cléo Q. Dias-Junior, Carlos A. Quesada, Hartwig Harder, Efstratios Bourtsoukidis, Jos Lelieveld & Jonathan Williams
Communications Earth & Environment 6, 703 (2025). https://doi.org/10.1038/s43247-025-02709-z