Rätsel in der Elektronenstreuung wird durch neue Messung am Mainzer Mikrotron noch komplexer

8. Dezember 2025

Physikerinnen und Physiker der Johannes Gutenberg-Universität Mainz haben einen bedeutenden Schritt unternommen, um die Frage zu beantworten, warum sich der Atomkern von Blei so anders verhält als jeder andere Atomkern, wenn er von Elektronen getroffen wird. Allerdings führte diese Untersuchung zu der Erkenntnis, dass das Rätsel der Elektronenstreuung noch komplexer ist als bisher angenommen.

Ungewöhnliches Streuverhalten bei Blei

Grundsätzlich streuen Elektronen an Atomkernen in einer Weise, die sich mit bemerkenswerter Genauigkeit vorhersagen lässt. Ein gut überprüfter Effekt dabei ist, dass eine Umkehrung des Spins der einfallenden Elektronen das Streuverhalten geringfügig verändern sollte. Dieser Effekt wird durch den Austausch zweier „virtueller Photonen“ zwischen dem Elektron und dem Atomkern verursacht.

Für die meisten Kerne sagt die Theorie exakt voraus, wie groß dieser winzige Effekt sein sollte. Experimente über Jahrzehnte hinweg haben diese Vorhersagen bestätigt. Das Element Blei stach hierbei jedoch stets hervor. Frühere Messungen hatten gezeigt, dass dieser spinabhängige Effekt bei Blei vollständig zu verschwinden scheint. Das ist ein Ergebnis, das keine der bestehenden Theorien erklären kann.

Das Experiment am Mainzer Mikrotron

In einem neuen Experiment hat das Team denselben Prozess unter Verwendung der hochauflösenden A1-Spektrometer am Mainzer Mikrotron (MAMI) gemessen, allerdings mit einer anderen Strahlenergie und einem anderen Streuwinkel. Diesmal war der Effekt eindeutig vorhanden und überraschend groß. Anstatt die frühere Anomalie aufzuklären, verschärft die neue Messung sie sogar noch. Das Verhalten des Bleikerns ändert sich drastisch mit der Energie, und zwar auf eine Weise, die die aktuelle Theorie nicht erfasst. Prof. Dr. Concettina Sfienti sagt dazu: „Dieses Ergebnis bestätigt, dass das Rätsel real ist.“ Sie fährt fort: „Das bedeutet, dass es unerforschte physikalische Phänomene gibt, wie Elektronen mit schweren Kernen interagieren, und dass wir neue theoretische Ansätze brauchen, um sie zu verstehen.“

Das Experiment wurde im Rahmen des von der Sonderforschungsbereichs (SFB) 1660 mit dem Titel „Hadronen und Kerne als Entdeckungsinstrumente“ durchgeführt. Ein Hauptziel ist es, mithilfe von Präzisionsexperimenten subtile Effekte in der Kernstruktur aufzudecken. Diese könnten neue Einblicke in das Standardmodell der Teilchenphysik ermöglichen. Das unerwartete Verhalten von Blei entwickelt sich dabei zu einem der faszinierendsten Beispiele dieses Forschungsverbunds. Das ist ein eindrucksvoller Beleg dafür, wie hochpräzise Messungen selbst in einer gut etablierten Theorie Lücken aufdecken können.

Weitreichende Bedeutung für zukünftige Experimente an MESA

Die Ergebnisse besitzen darüber hinaus eine weitreichende Bedeutung für das zukünftige P2-Experiment am neuen MESA-Beschleuniger, der aktuell auf dem Mainzer Campus als Teil des Exzellenzclusters PRISMA++ errichtet wird. Im MESA-Beschleuniger sollen extrem kleine Effekte bei der Elektronenstreuung gemessen werden, um das Standardmodell mit einer bisher unerreichten Genauigkeit zu testen. Um die beim P2-Experiment notwendige Präzision zu erreichen, ist es von entscheidender Bedeutung, die Rolle des Zwei-Photonen-Austauschs in schweren Atomkernen – wie beim nun beobachteten überraschenden Verhalten von Blei – zu verstehen.
Sfienti erklärt in diesem Zusammenhang: „Mit diesem neuen Ergebnis von MAMI gewinnen wir ein deutlich klareres Bild davon, was verstanden werden muss, bevor wir die nächste Präzisionsstufe bei MESA erreichen.“ Sie fasst zusammen: „Was wir heute messen, prägt direkt den Fahrplan für die Hochpräzisionsphysik von morgen.“

Quelle

Johannes Gutenberg-Universität Mainz (12/2025)

Publikation

Esser et al., Beam-Normal Single-Spin Asymmetry in 208Pb at Low Energy: Discrepancy Resolved or New Kinematic Puzzle?, Physical Review Letters 135, 232502, 2. Dezember 2025,
DOI: 10.1103/fd61-xxk6,
https://doi.org/10.1103/fd61-xxk6

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