Neurotoxisch? Neues Screening-Verfahren für Chemikalien liefert schnelle Antwort

14. August 2025

Aktuellen Schätzungen zufolge sind weltweit rund 350.000 Chemikalien im Handel, doch über die potenziell neurotoxischen – also schädlichen – Wirkungen auf das (sich entwickelnde) Gehirn ist kaum etwas bekannt. Bisher fehlte es an effizienten Testmethoden, um diese Risiken zu bewerten. Ein Forschungsteam des UFZ hat nun ein Hochdurchsatz-Screening-Verfahren entwickelt, das dieses Problem löst. Anstelle herkömmlicher Tierversuche nutzen sie das Zebrafischmodell, um die Neurotoxizität von Chemikalien schnell und zuverlässig zu testen. Mit dieser neuen Methode konnten die Wissenschaftler:innen bereits die neurotoxische Wirkung von Chlorophen sowie die zugrunde liegenden molekularen Mechanismen aufdecken.

„Bislang sind weltweit nur etwa 200 Substanzen durch offizielle regulatorische Studien auf neurotoxische Wirkungen hin untersucht“, sagt Erstautor Dr. David Leuthold. „Der Grund dafür ist, dass diese Testverfahren aufwendig, zeitintensiv und teuer sind. Hinzu kommt der ethische Aspekt, denn sie finden überwiegend mit Ratten oder Mäusen statt.“ Was fehlt, ist ein Screening-Verfahren, das auf konventionelle Tierversuche verzichtet und mit dem neurotoxische Wirkungen von Chemikalien und komplexen Chemikalienmischungen schnell, sicher und kostengünstig aufgedeckt werden können. Genau hier setzt die UFZ-Studie an.

Das Zebrafischmodell: Ein effizientes Werkzeug für die Toxikologie

Das Forschungsteam des UFZ nutzte für seine Studie Zebrafischembryonen (Danio rerio), ein in der toxikologischen Forschung weit verbreitetes Modell. Ein entscheidender Vorteil dieses Modells ist die genetische Ähnlichkeit zum Menschen: Rund 70 % der Zebrafischgene sind auch im menschlichen Erbgut zu finden, was die Übertragbarkeit der Erkenntnisse auf den Menschen wahrscheinlich macht. Darüber hinaus eignen sich die Embryonen aufgrund ihrer geringen Größe und schnellen Entwicklung ideal für Hochdurchsatzanwendungen, die wertvolle Einblicke in die Funktion des Nervensystems bieten.

Lernen und Gedächtnis im Fischembryo testen

Die Wissenschaftler:innen entwickelten ein Screening-Verfahren, das eine schnelle Überprüfung von Chemikalien auf neurotoxische Effekte erlaubt, einschließlich solcher, die Lern- und Gedächtnisprozesse beeinträchtigen. Die Frage, wie sich Lernen und Gedächtnis in einem Fischembryo untersuchen lassen, stand dabei im Fokus. „Da bedienen wir uns einer der simpelsten Formen des Lernens, die Gewöhnung an einen wiederkehrenden Reiz“, erklärt Leuthold. „Ertönt ein akustisches Signal, löst es beim Fisch einen Schreck- oder Fluchtreflex aus. Ertönt es aber immer wieder, gewöhnt er sich daran und hört schließlich auf, auf den ungefährlichen Reiz zu reagieren.“ Auch der Wechsel zwischen Hell-Dunkel-Reizen führt bei Zebrafischembryonen zu einem veränderten Schwimmverhalten. Die Forschenden kombinierten akustische und visuelle Reize in Häufigkeit, Reihenfolge, zeitlicher Abfolge, Dauer sowie Intensität und konzipierten so ein definiertes Testverfahren.

Zuerst testeten sie mit dem neuen Verfahren chemische Substanzen, deren Wirkung auf das Verhalten von Fischembryonen bekannt war. „Neurotoxische Substanzen können ganz unterschiedlich wirken. Manche führen etwa dazu, dass sich der Fischembryo nicht mehr an einen akustischen Reiz gewöhnt, wodurch ihr Fluchtreflex wiederholt ausgelöst wird. Andere Stoffe können wiederum bewirken, dass die Gewöhnung deutlich schneller eintritt“, erklärt Leuthold. „Mit diesen bekannten Substanzen konnten wir eine Art Verhaltens-Fingerabdruck generieren, über den wir dann Rückschlüsse ziehen können, wie die chemische Exposition die Funktion des Nervensystems stört.“

Anschließend testeten die Forschenden zehn ausgewählte Substanzen, die ein Rezeptorsystem (NMDAR) beeinflussen, das für Lernen und Gedächtnis eine besondere Rolle spielt. Ob sie auch im Zebrafischmodell eine neurotoxische Wirkung zeigen, darüber war noch nichts bekannt. „Mit unserem Screening-Ansatz konnten wir bei sechs Substanzen deutliche Effekte auf das Lernverhalten nachweisen. Sie zeigten eindeutig eine neuroaktive Wirkung“, sagt der UFZ-Forscher. Dabei stach Chlorophen besonders hervor, das zu den Bioziden gehört. Im Gegensatz zu den anderen getesteten Substanzen, die zu einer beschleunigten Gewöhnung an akustische Reize führten, blockierte Chlorophen das Lernverhalten vollständig. Zudem zeigte sich eine weitere bemerkenswerte Wirkung: Während die Fischembryonen unter dem Einfluss von Chlorophen weiterhin auf akustische Reize reagierten, blieb eine Reaktion auf visuelle Reize aus. „Dieses Phänomen wird als paradoxe Erregung bezeichnet und tritt bei bestimmten Narkotika auf“, so Leuthold. Dass auch Chlorophen diesen Effekt haben kann, war bislang nicht bekannt, weshalb die Forschenden dem dahinterstehenden Wirkmechanismus weiter auf den Grund gehen wollten.

Der Weg zur Lösung: Die Rolle der GABAA-Rezeptoren

Bei ihrer Suche stießen die Forschenden auf eine US-Studie, die Narkotika im Zebrafischmodell untersuchte. Dort wurde gezeigt, dass die sogenannte paradoxe Erregung durch bestimmte GABAA-Rezeptoren vermittelt wird. Diese Rezeptoren spielen eine zentrale Rolle im menschlichen Zentralnervensystem und beeinflussen maßgeblich das Verhalten. Dies gab dem UFZ-Team einen entscheidenden Hinweis: Könnte die schädliche Wirkung von Chlorophen möglicherweise gehemmt werden, wenn diese GABAA-Rezeptoren blockiert werden? Dieser Hypothese gingen die Wissenschaftler:innen in weiteren Untersuchungen mit ihrer Zebrafisch-Plattform nach, um den genauen Mechanismus zu entschlüsseln.Leuthold: „Bei blockierten GABAA-Rezeptoren reagierten die mit Chlorophen exponierten Fischlarven tatsächlich wieder auf visuelle Reize. Aber: Die Blockierung der Rezeptoren konnte das veränderte Lernverhalten nicht rückgängig machen. Wir haben daraus gelernt, dass Chlorophen mehrere molekulare Wirkmechanismen besitzt.“

Bestätigung des Wirkmechanismus von Chlorophen

Um ihre Hypothese zum Wirkmechanismus von Chlorophen über GABAA-Rezeptoren zu untermauern, führten die Forschenden weiterführende Tests durch. Sie nutzten hierfür isolierte Neuronen von Mäusen sowie neuronale Zellmodelle aus menschlichen Zellen. In Zusammenarbeit mit Kolleg:innen der Universität Leipzig und des Leibniz-Instituts für umweltmedizinische Forschung in Düsseldorf konnten sie belegen, dass Chlorophen tatsächlich über GABAA-Rezeptoren wirkt. Auch Computermodelle, die die chemische Struktur von Chlorophen mit den möglichen Rezeptoren abglichen, sagten eine Bindung an diese Rezeptoren voraus. Damit war der Wirkmechanismus von Chlorophen über GABAA-Rezeptoren eindeutig nachgewiesen.

Auf der Suche nach dem zweiten Mechanismus

Doch die Wissenschaftler:innen wollten auch den zweiten Mechanismus entschlüsseln, der das Lernverhalten der Fischembryonen verändert hatte. Hierbei vermuteten sie zunächst eine Beteiligung des NMDA-Rezeptorsystems. Doch weiterführende Untersuchungen deuteten darauf hin, dass Chlorophen nicht direkt mit diesen Rezeptoren interagiert. Die US-Studie, die bereits den Hinweis auf die GABAA-Rezeptoren geliefert hatte, gab den Forschenden einen weiteren entscheidenden Hinweis: Ein zweites Rezeptorsystem, nämlich spezielle Kaliumkanäle, könnte ebenfalls eine Rolle bei der paradoxen Erregung spielen. „So kam uns die Idee, das Schmerzmittel Flupirtin, das über diese Kaliumkanäle wirkt, in unserer Zebrafisch-Plattform zu testen“, erklärt der Ökotoxikologe. „Und tatsächlich – Flupirtin rief nahezu die gleichen Verhaltensmuster hervor wie Chlorophen, einschließlich reduziertem Lernverhalten. Vermutlich wirkt Chlorophen ganz ähnlich, wenn nicht gar genauso über diese Kaliumkanäle.“

Die Forschenden hoffen, dass sie mit ihrem Screening-Ansatz dazu beitragen können, dass Chemikalien und Chemikalienmischungen künftig in großem Maßstab schnell, kostengünstig und ohne konventionelle Tierversuche auf neurotoxische Wirkungen getestet und so Gefährdungen für Mensch und Umwelt frühzeitig erkannt werden können. „Unsere Zebrafisch-Plattform steht im Einklang mit der EU-Chemikalienstrategie sowie dem Konzept des European Green Deal, da sie gefährliche Chemikalien frühzeitig identifizieren kann, bevor sie Schaden anrichten“, sagt Leuthold.

Prof. Dr. Tamara Tal betont: „Aufsichtsbehörden stehen der Nutzung von Toxizitätsdaten aus Zebrafischstudien zur Regulierung von Chemikalien grundsätzlich skeptisch gegenüber. Wenn wir zeigen können, dass die Wirkweise dieser Chemikalien auf die Entwicklung und Funktion des Gehirns in Zebrafisch-, Maus- und Humanmodellen spezifisch konserviert ist, stärkt das das Vertrauen in die Nutzung verhaltensbasierter Zebrafischdaten. So lässt sich die bestehende Lücke in der Neurotoxizitätsprüfung besser schließen, mit dem Ziel, die menschliche Gesundheit vor den schädlichen Auswirkungen neurotoxischer Chemikalien zu schützen.“

Quelle

Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ (08/2025)

Publikation

David Leuthold, Nadia K. Herold, Jana Nerlich, Kristina Bartmann, Ilka Scharkin, Stefan J.
Hallermann, Nicole Schweiger, Ellen Fritsche, Tamara Tal: Multi-behavioral phenotyping in early-life-stage zebrafish for identifying disruptors of non-associative learning; Environmental Health Perspectives, https://doi.org/10.1289/EHP16568

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