Neues Quasiteilchen in Seltenerdmaterial entdeckt

5. November 2025

Die Eigenschaften aller Materialien werden grundlegend von ihren Elektronen bestimmt, welche die elektrische Leitfähigkeit eines Metalls, die Funktionsweise eines Halbleiters und die auftretenden magnetischen Effekte festlegen. In einigen Materialien zeigen Elektronen jedoch besonders ungewöhnliche Verhaltensweisen: Sie wechseln zwischen verschiedenen Zuständen, beeinflussen einander stark und können sogar bewirken, dass ein Metall sich plötzlich in einen Isolator verwandelt, der keinen elektrischen Strom mehr leitet.

Ein internationales Forschungsteam um Dr. Chul-Hee Min und Professor Kai Rossnagel von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) konnte nun einen entscheidenden Mechanismus hinter diesem Phänomen entschlüsseln. Ihre Untersuchung konzentrierte sich auf eine Verbindung aus Thulium, Selen und Tellur (TmSe1−x​Tex​), ein Material, das auf dem Seltenerdmetall Thulium basiert. Solche Metalle sind aufgrund ihrer speziellen elektronischen Eigenschaften für viele Schlüsseltechnologien von Bedeutung. Dabei entdeckte das Team ein bislang unbekanntes Quasiteilchen in dem Stoff. Dieses entsteht durch die Wechselwirkung von Elektronen und Atomen und liefert die Erklärung dafür, warum das Material seine elektrischen Eigenschaften verändert.

Wenn Metalle plötzlich zu Isolatoren werden

Steigt der Telluranteil in der Verbindung TmSe1−x​Tex​ auf etwa 30 Prozent, verwandelt sich das Material vom Halbmetall in einen Isolator, d.h., es hört auf, Strom zu leiten. Solche Übergänge sind für die Physik faszinierend, da sie zeigen, dass die Materialeigenschaften nicht allein durch die chemische Zusammensetzung erklärbar sind. Die Elektronen beeinflussen einander stark und koppeln sich an die Schwingungen des Kristallgitters (das regelmäßige Netz aus Atomen). Dadurch bilden sie Quasiteilchen, teilchenartige Zustände mit neuen Eigenschaften.

Untersuchungsmethode

Um diese Prozesse auf atomarer Ebene zu verstehen, untersuchten die Forschenden das Material mittels hochauflösender Photoemissionsspektroskopie. Die Messungen wurden weltweit an Synchrotronstrahlungsquellen durchgeführt, unter anderem im Ruprecht-Haensel-Labor der CAU und des Deutschen Elektronen-Synchrotrons (DESY). Dabei bestrahlten sie die Probe mit intensiver Röntgenstrahlung und maßen die Austrittswinkel und -energien der Elektronen. Die resultierenden Spektren zeigen die Bindungsstärke der Elektronen in bestimmten Zuständen und liefern so Aufschluss über die zugrunde liegenden Wechselwirkungsprozesse.

Entdeckung der Polaronen

Die spektroskopischen Messungen zur Elektronenbewegung im TmSe1−x​Tex​-Material enthüllten neue Details: Es zeigte sich wiederholt ein kleines, zusätzliches Signal, das wie eine Beule neben dem Hauptsignal wirkte. Obwohl die Forschenden dieses Phänomen zunächst für eine technische Unschärfe hielten, gab das wiederkehrende Signal dem Kieler Team den Anstoß, das Verhalten des Materials systematisch über Jahre hinweg zu untersuchen. Diese lange Spurensuche, die bereits 2015 durch Erstautor Dr. Chul-Hee Min begann, führte schließlich zur Entdeckung der Quasiteilchen. Min suchte anfänglich nach topologischen Oberflächenzuständen, konzentrierte sich später aber auf das elektronische Verhalten im Materialinneren, wo das zusätzliche Signal lange Zeit ein ungelöstes Rätsel blieb.

Identifizierung und theoretische Erklärung

Erst nach jahrelanger Analyse und in enger Zusammenarbeit mit internationalen Theoretikern konnte das Forschungsteam die Ursache des Signals identifizieren: Es stammt von Polaronen, Quasiteilchen, bei denen ein Elektron eng mit den Schwingungen des Kristallgitters gekoppelt ist. Das Elektron bewegt sich zusammen mit der Verzerrung der Atome und bildet so ein neues, zusammengesetztes Teilchen.

Die Wissenschaftler nutzten zur Erklärung das periodische Anderson-Modell, welches die Elektronenwechselwirkungen in solchen Metallen beschreibt. Durch die Erweiterung des Modells um die Kopplung der Elektronen an die Gitterschwingungen konnten die spektroskopischen Messungen präzise erklärt werden. „Das war der entscheidende Schritt“, erklärt Min. „Sobald wir diese Wechselwirkung in die Berechnungen einbezogen, passten Simulation und Messungen perfekt zusammen.“

Polaronen – Tanz der Elektronen und Atome

Ein Polaron lässt sich anschaulich als eine Art „Tanz“ zwischen einem Elektron und den umgebenden Atomen beschreiben. Während Elektronen in gewöhnlichen Metallen fast frei fließen, bewegen sie sich in diesem Material gemeinsam mit leicht verzerrten Atomlagen – vergleichbar mit einer Delle, die durchs Kristallgitter wandert . Diese Kopplung verlangsamt die Elektronen stark, was die elektrische Leitfähigkeit ändert und den beobachteten Übergang zum Isolator erklärt.

„In Quantenmaterialien wie TmSe₁₋ₓTeₓ, deren exotische Eigenschaften von den quantenmechanischen Eigenschaften ihrer Elektronen herrühren, wurde dieser Effekt bisher nicht experimentell nachgewiesen“, sagt Professor Kai Rossnagel. „Dass wir ihn hier erstmals sichtbar machen konnten, zeigt, welche interessanten neue Phänomene in den Quantenkosmen von Materialien noch zu entdecken sind.“

Potenzial für Mikroelektronik und Quantentechnologie

Die gewonnenen Erkenntnisse haben eine Bedeutung, die über das untersuchte Material hinausgeht. Ähnliche Kopplungseffekte treten in vielen modernen Quantenmaterialien auf, von Hochtemperatursupraleitern bis hin zu 2D-Materialien . Forschende könnten die identifizierten Polaronen zukünftig gezielt einsetzen, um elektronische, optische oder magnetische Materialeigenschaften zu steuern oder sogar völlig neue Materiezustände zu erzeugen.

„Solche Entdeckungen entstehen oft aus hartnäckiger Grundlagenforschung“, sagt Rossnagel. „Aber sie sind genau das, was langfristig zu neuen Technologien führen kann.“

Quelle

Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (10/2025)

Publikation

C.-H. Min, Kai Roßnagel et al.: „Polaronic Quasiparticles in the Valence-Transition Compound TmSe₁₋ₓTeₓ“, Physical Review Letters (2025), DOI: 10.1103/PhysRevLett.135.186501
https://journals.aps.org/prl/abstract/10.1103/72dv-ynm2

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