Neue genetische Ursache für Mikrozephalie entdeckt

30. Oktober 2025

Die Mikrozephalie ist eine angeborene Fehlbildung, die eine deutlich verringerte Gehirngröße zur Folge hat und oft mit motorischen und geistigen Einschränkungen verbunden ist. Ein Forschungsteam unter der Leitung von Dr. Tran Tuoc von der der Ruhr-Universität Bochum hat nun eine bisher unbekannte genetische Ursache für diese Erkrankung identifiziert. Demnach verursachen Mutationen im Gen EXOSC10, einem zentralen Bestandteil des sogenannten RNA-Abbaukomplexes („Exosom“), die primäre Mikrozephalie.

Präzises Gleichgewicht der Stammzellen

Für die Entwicklung der Großhirnrinde müssen neuronale Stammzellen ein präzises Gleichgewicht zwischen Selbsterneuerung und Differenzierung aufrechterhalten. Nur so kann die große Vielfalt an Nervenzellen entstehen, die für Wahrnehmung und Kognition benötigt wird. Ist dieses Gleichgewicht gestört, dann zeigt sich dies in Fehlbildungen. „Dank moderner Sequenzierverfahren und genetischer Analysemethoden wächst unser Verständnis der genetischen Ursachen von Entwicklungsstörungen des Gehirns rasant“, berichtet Tran Tuoc.

Genom-Screening von Patient*innen

Dr. Tran Tuoc und sein Team identifizierten mittels Genom-Screenings bei Patient*innen mit kortikalen Fehlbildungen Mutationen im Gen EXOSC10. Diese Mutationen waren nicht von den Eltern vererbt, sondern waren beim Individuum neu entstanden. Um die zugrunde liegenden Mechanismen dieser Entstehung zu verstehen, erzeugten die Forschenden Mausmodelle mit vergleichbaren Mutationen. Bei diesen Mäusen bewirkte der teilweise Verlust von EXOSC10 eine vorzeitige Umwandlung von Stammzellen in Nervenzellen. „Dadurch verkleinerte sich die Stammzellpopulation, und die Großhirnrinde blieb kleiner – ganz ähnlich wie beim menschlichen Krankheitsbild“, so Erstautorin Dr. Pauline Ulmke.

Molekulare Analysen, einschließlich RNA-Sequenzierung und -Immunpräzipitation, enthüllten die Funktion von EXOSC10: Es baut normalerweise bestimmte Boten-RNAs (mRNAs) des sogenannten Sonic-Hedgehog (Shh)-Signalwegs, darunter die Transkripte Scube1 und Scube3, ab. Fehlt jedoch EXOSC10, werden diese Transkripte nicht ausreichend degradiert, was folglich zu einer übermäßigen Aktivierung des Shh-Signals führt. „Wird diese Signalaktivität im Mausmodell gehemmt, kann die reduzierte Hirngröße weitgehend wiederhergestellt werden – ein klarer Beweis für die ursächliche Rolle dieser Fehlregulation“, folgert Ulmke.

Bislang unbekannte Verbindung

„Unsere Studie zeigt eine bislang unbekannte Verbindung zwischen RNA-Abbau und Sonic-Hedgehog-Signalgebung während der Hirnentwicklung“, erklärt Tran Tuoc. „Sie verdeutlicht, wie empfindlich das Gleichgewicht zwischen RNA-Stabilität und Signalaktivität bei der Steuerung des Wachstums des Kortex ist.“ Die Studie liefert die Identifizierung von EXOSC10 als neuem Mikrozephalie-Gen. Sie liefert auch grundlegende Erkenntnisse darüber, wie die post-transkriptionelle RNA-Regulation das entscheidende Gleichgewicht neuronaler Stammzellen kontrolliert und somit die Gehirngröße bestimmt.

Diese Arbeit erweitert somit das Spektrum der bekannten genetischen Ursachen von Mikrozephalie. Sie eröffnet neue Perspektiven für die Erforschung des RNA-Stoffwechsels und der Signalwege bei menschlichen Hirnfehlbildungen. Die Ergebnisse unterstreichen, wie wichtig moderne Genom-Sequenzierung und der Einsatz von Tiermodellen sind, um die molekularen Grundlagen komplexer neuroentwicklungsbedingter Erkrankungen zu entschlüsseln.

Quelle

Ruhr-Universität Bochum (10/2025)

Publikation

Pauline Ulmke et al.: EXOSC10 Haploinsufficiency Causes Primary Microcephaly by Derepression of Sonic Hedgehog Signalling, in: Brain, 2025, DOI: 10.1093/brain/awaf405
https://academic.oup.com/brain/advance-article-abstract/doi/10.1093/brain/awaf405/8300602?redirectedFrom=fulltext

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