Multiple Sklerose: Neue genetische Erkenntnisse ermöglichen Wahl des richtigen Medikaments vor Therapiebeginn

13. August 2025

Bei einer Erstdiagnose von Multipler Sklerose (MS) stellt sich für viele Patientinnen und Patienten die Frage nach der richtigen Therapie: Sollen sie mit Interferon oder mit Glatirameracetat behandelt werden? Bisher war die Entscheidung oft eine Art Glücksspiel, da beide Substanzen als bewährte Basistherapien mit ähnlichen Vorteilen galten: geringe Nebenwirkungen und die Möglichkeit zur Anwendung während Schwangerschaft und Stillzeit. Wie bei allen immunmodulatorischen Therapien wirken sie jedoch nicht bei jedem Menschen gleich gut.

Eine neue Studie unter der Leitung der Universität Münster schafft nun Klarheit. Ein internationales Forschungsteam hat einen genetischen Biomarker identifiziert, der vorhersagt, ob Patientinnen und Patienten besonders gut auf Glatirameracetat ansprechen. Personen mit dem Gewebetyp HLA-A*03:01 profitieren demnach signifikant stärker von Glatirameracetat als von Interferon-beta. Die umfassende multizentrische Analyse, die mit über 3.000 MS-Patienten durchgeführt wurde, liefert damit einen klaren Maßstab für die Therapieentscheidung.

„Unsere Studie zeigt zum ersten Mal, dass ein genetischer Marker mit dem Behandlungserfolg eines MS-Medikaments verknüpft ist“, erklärt Studienleiter Prof. Nicholas Schwab von der Universität Münster. „Damit lässt sich vor Therapiebeginn vorhersagen, ob Glatirameracetat oder Interferon die wahrscheinlich bessere Wahl ist.“ Bei etwa einem von drei MS-Betroffenen fällt die Entscheidung auf GA, bei den anderen beiden Fällen wirkt vermutlich Interferon-beta besser. „Das ist ein entscheidender Fortschritt für die personalisierte MS-Behandlung“, freut sich Prof. Heinz Wiendl, Sprecher des Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS), der die Studie mit konzipiert hat.

Klinischer Nutzen in fünf unabhängigen Kohorten belegt

Ein Forschungsteam untersuchte die spezifischen T-Zell-Antworten bei Patientinnen und Patienten, die mit Glatirameracetat (GA) behandelt wurden. Sie analysierten die T-Zell-Rezeptor-Sequenzen (TZR) im Blut von über 3.000 MS-Patienten aus verschiedenen internationalen Studien. Dabei entdeckten die Forschenden, dass sich bestimmte T-Zell-Klone nach einer GA-Therapie nur bei jenen Patienten fanden, die Träger spezifischer HLA-Moleküle waren: HLA-A03:01 oder HLA-DRB115:01. Dies deutet darauf hin, dass das Immunsystem bei Vorliegen eines dieser Moleküle auf die GA-Therapie reagiert. Interessanterweise zeigte sich jedoch, dass nur Träger der Genvariante HLA-A*03:01 einen nachweisbaren klinischen Behandlungsvorteil hatten, also eine Verbesserung ihrer Symptome durch die GA-Therapie erfuhren.

Um die Relevanz dieser Ergebnisse zu bestätigen, untersuchte das Team fünf große Kohorten aus den USA, Frankreich und Deutschland, darunter die NationMS-Kohorte. In allen Analysen zeigten Patientinnen und Patienten mit der Genvariante HLA-A03:01, die mit GA behandelt wurden, signifikant weniger Krankheitssymptome als bei einer Therapie mit Interferon (IFN). Statistisch gesehen trägt etwa 30 bis 35 Prozent der europäischen MS-Patienten das HLA-A03:01-Allel. Diese Erkenntnis ermöglicht eine fundiertere Therapieentscheidung und könnte die Behandlung der Multiplen Sklerose maßgeblich verbessern.

Personalisierte Therapieentscheidung durch einfache genetische Testung möglich

Das Besondere an dieser Entdeckung ist, dass sie kurzfristig in der Therapieberatung umgesetzt werden kann. Die relevante Genvariante kann mit einem bereits etablierten HLA-Test identifiziert werden, wie er beispielsweise bei Transplantationen oder zur Prüfung der Arzneimittelsicherheit routinemäßig eingesetzt wird.

Die Studie liefert jedoch noch weitergehende Erkenntnisse. Sie identifiziert nicht nur einen klinisch relevanten Biomarker, sondern gibt auch neue Hinweise auf den Wirkmechanismus von Glatirameracetat (GA). Die beobachteten T-Zell-Antworten legen nahe, dass GA nicht all seine Eiweißbestandteile benötigt, um wirksam zu sein. Es scheint, als ob nur wenige Fragmente der GA-Mischung eine dominante Rolle spielen oder vielleicht sogar ein einzelnes Fragment ausschlaggebend ist. Diese Erkenntnis könnte die gezielte Weiterentwicklung des Medikaments in der Zukunft ermöglichen.

Quelle

Universität Münster (08/2025)

Publikation

Zhang BC, Schneider-Hohendorf T, Elyanow R, Pignolet B, Falk S, Wünsch C, Deffner M, Yusko E, May D, Mattox D, Dawin E, Gerdes LA, Bucciarelli F, Revie L, Antony G, Jarius S, Seidel C, Senel M, Bittner S, Luessi F, Havla J, Knop M, Friese MA, Rothacher S, Salmen A, Hayashi F, Henry R, Caillier S, Santaniello A; University of California San Francisco MS-EPIC Team; German Competence Network Multiple Sclerosis (KKNMS); Seipelt M, Heesen C, Nischwitz S, Bayas A, Tumani H, Then Bergh F, Meyer Zu Hörste G, Kümpfel T, Gross CC, Wildemann B, Kerschensteiner M, Gold R, Meuth SG, Zipp F, Cree BAC, Oksenberg J, Wilson MR, Hauser SL, Zamvil SS, Klotz L, Liblau R, Robins H, Sabatino JJ Jr, Wiendl H, Schwab N. HLA-A∗03:01 as predictive genetic biomarker for glatiramer acetate treatment response in multiple sclerosis: a retrospective cohort analysis. EBioMedicine. 2025 Jul 31;118:105873. https://doi.org/10.1016/j.ebiom.2025.105873

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