Molekulares Wettrüsten: Wie das Genom sich gegen Feinde von innen verteidigt

16. Juli 2025

Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung der Freiburger Biolog*innen Dr. Wenjing Qi und Prof. Ralf Baumeister hat einen bedeutenden Mechanismus entschlüsselt: Sie fanden heraus, wie das Retrotransposon LINE1 ein zelleigenes Protein nutzt, um aktiv zu werden – ein Prozess, der häufig in Tumoren beobachtet wird. Gleichzeitig konnten die Forscher auch die Gegenmaßnahme der Zelle identifizieren, die dazu dient, Phänomene wie die Tumorbildung oder chronische Entzündungen zu verhindern.

Schläfer in der Zelle

Im Jargon der Geheimdienste werden Agenten, die jahrelang unauffällig in einer Gesellschaft leben und dann von ihren Auftraggebern aktiviert werden, als Schläfer bezeichnet. Das menschliche Genom birgt Tausende solcher Schläfer, bekannt als Retrotransposonen. Diese molekularen Einheiten – vermutlich Überbleibsel von Virusattacken, die Millionen von Jahren zurückliegen – sind mit minimaler genetischer Information ausgestattet. Ihr Ziel ist es, bei passender Gelegenheit aus dem Genom zu springen, sich zu vermehren und dabei die Enzymmaschinerie der menschlichen Zellen für ihre Zwecke zu missbrauchen.

Das häufigste dieser Elemente ist LINE1, welches fast 20 Prozent des gesamten Genoms ausmacht. Wenn LINE1 aktiv wird, kopiert es sich selbst und fügt sich an anderer Stelle wieder in die Erbsubstanz ein. Dieser Prozess kann den Bauplan der Zelle durcheinanderbringen. Obwohl dies manchmal vorteilhaft sein kann, um die genetische Vielfalt zu erhöhen, wird es insbesondere bei fortschreitenden Tumoren leicht unkontrollierbar.

Darüber hinaus kann ein aktives LINE1 die Immunabwehr der Zelle alarmieren, was zu chronischen Entzündungen führen kann. Aus diesem Grund hat die menschliche Zelle im Laufe der Evolution zahlreiche Mechanismen entwickelt, um genau diese Aktivierung zu verhindern. Wie LINE1 selbst mobilisiert wird, war jedoch bisher weitgehend unverstanden.

Wettbewerb zwischen Proteinen

Dies hat das Forschungsteam nun entschlüsselt: LINE1 rekrutiert dazu ein eigentlich funktionsloses Protein der Zellen, NRBP1. Diese ehemalige Kinase hat im Lauf der Evolution ihre enzymatischen Funktionen durch Mutationen ihres Gens verloren. Da die unkontrollierte Vermehrung von LINE1 für die Wirtszelle grundsätzlich problematisch ist, hat diese im Verlauf der Evolution auch gleich einen Gegenmechanismus entwickelt. Eine leicht veränderte Kopie dieses Proteins, das Paralog NRBP2, markiert NRBP1 so, dass es fortan als Müll erkannt und entsorgt wird.

Um Schäden abzuwenden, muss der Wettbewerb zwischen diesen beiden Proteinen zugunsten von NRBP2 entschieden werden. Bislang waren beide Faktoren in der Tumorbiologie lediglich durch ihre unterschiedliche Beteiligung an Tumoren aufgefallen, ohne dass ihre genauen Funktionen bekannt waren. Eine Analyse der Entwicklungsgeschichte dieses Wettbewerbs legt nahe, dass die blockierende Funktion durch NRBP2 wahrscheinlich erst später in der Evolution erworben wurde, um dem zerstörerischen Einfluss von NRBP1 und LINE1 entgegenzuwirken.

Detaillierte Einblicke

Dr. Wenjing Qi, Arbeitsgruppenleiterin im Labor von Prof. Ralf Baumeister, Professor für Bioinformatik und Molekulargenetik an der Universität Freiburg, hat gemeinsam mit ihrem Team wichtige Erkenntnisse gewonnen. Beide Forschenden sind zudem Teil des Exzellenzclusters CIBSS – Centre for Integrative Biological Signalling Studies der Universität Freiburg. Die Erstautorinnen der Veröffentlichung sind ihre Mitarbeiterinnen Dr. Wei Yang und Shaobo Cong. „Unsere Ergebnisse zeigen nicht nur die Beteiligung von NRBP1/2 an der Entstehung menschlicher Tumorerkrankungen“, erklärt Qi. „Sie geben auch einen Einblick in die regulatorischen Details, die sich im Lauf der Evolution aus der Genduplikation ergeben haben.“

Quelle

Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau (07/2025)

Publikation

Yang, Wei et. al. (2025): Opposing roles of pseudokinases NRBP1 and NRBP2 in regulating L1 retrotransposition. Nature Communications. DOI: 10.1038/s41467-025-61626-z
https://www.nature.com/articles/s41467-025-61626-z

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