Ein internationales Forschungsprojekt zur Entschlüsselung des zellulären Transports chemischer Substanzen hat nun in vier bahnbrechenden wissenschaftlichen Publikationen seinen Höhepunkt gefunden. Unter der Federführung von Giulio Superti-Furga am CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und mit der Unterstützung eines globalen Konsortiums aus akademischen und pharmazeutischen Partnern im Rahmen der Innovative Medicines Initiative der Europäischen Union, präsentiert dieses über ein Jahrzehnt laufende Projekt die erste umfassende und funktionelle Kartierung der chemischen Transportwege in menschlichen Zellen.
Das Leben in all seinen Ausprägungen ist fundamental auf die Fähigkeit von Zellen angewiesen, Substanzen mit ihrer Umgebung auszutauschen. Nährstoffe, Ionen und Vitamine müssen aufgenommen, während Stoffwechselendprodukte und spezifische Metaboliten ausgeschieden werden. Dieser essenzielle Prozess wird durch Transporterproteine vermittelt, die in die Zellmembranen eingebettet sind. Trotz ihrer zentralen Bedeutung war das Wissen über die genaue Funktion vieler der hunderten von Transportern und ihrer zugehörigen Gene im menschlichen Genom bislang begrenzt – mit erheblichen Konsequenzen für die Forschung in Bereichen wie Krebs, Stoffwechselstörungen oder neurologischen Erkrankungen.
Um diese Forschungslücke zu schließen, initiierte die Arbeitsgruppe um Superti-Furga bereits im Jahr 2015 mit einem richtungsweisenden Artikel in der Fachzeitschrift Cell einen dringenden Aufruf zur Intensivierung der Forschung in diesem Feld. Zehn Jahre später haben das CeMM und ein internationales Konsortium nun einen bedeutenden Durchbruch erzielt: Durch die gezielte Untersuchung der größten Familie von Transportern, den Solute Carriern (SLCs), konnte das bisherige Wissen mehr als verdoppelt und eine solide Basis für zukünftige wissenschaftliche Fortschritte geschaffen werden.
Ein Megaprojekt zu Membrantransportern
In einer koordinierten Anstrengung arbeiteten unter dem Dach des Projekts RESOLUTE 120 Forschende aus 13 Institutionen in acht Ländern eng zusammen. Nach über fünf Jahren intensiver Laborarbeit wurde der Großteil der experimentellen Daten gewonnen. Das Team des CeMM – unterstützt von wichtigen Partnern und hauptsächlich finanziert durch die Österreichische Akademie der Wissenschaften – investierte weitere Jahre in die Harmonisierung, Integration und Interpretation der umfangreichen Datensätze.
Das Resultat dieser Bemühungen ist eine tiefgreifende Erweiterung des biologischen Wissens über SLC-Transporter, die durch eine Kombination aus experimentellen und computergestützten Ansätzen erzielt wurde. Die gewonnenen Erkenntnisse werfen ein neues Licht auf die komplexe Organisation des chemischen Transports in menschlichen Zellen und stellen wertvolle Ressourcen für die weltweite wissenschaftliche und medizinische Gemeinschaft bereit.
„Es ist schwer, in der Geschichte der Molekularbiologie eine ähnlich starke, gezielte Initiative zu finden, die so viel Wissen und Werkzeuge zu einer einzelnen Protein-Klasse beigetragen hat – und das bei einer Gruppe, die derart relevant für menschliche Erkrankungen ist“, sagt Giulio Superti-Furga, wissenschaftlicher Direktor des CeMM und Koordinator des RESOLUTE-Konsortiums. „Mit diesen vier Studien hoffen wir, die Einstiegshürden für die Transporterforschung deutlich gesenkt und eine Welle an biomedizinischen Entdeckungen ausgelöst zu haben.“
Neben den genannten Erkenntnissen entstand durch das Projekt auch ein umfangreiches Arsenal an Reagenzien, Datensätzen und Analysewerkzeugen – allesamt öffentlich zugänglich unter: https://re-solute.eu.
„Das vielleicht wichtigste Ergebnis ist, dass wir die meisten – wenn nicht sogar alle – Solute Carrier mit funktionellen Informationen annotieren konnten und ein umfangreiches Arsenal an Werkzeugen geschaffen haben, das nun der weltweiten Forschungsgemeinschaft zur Verfügung steht. Dieses Ergebnis, das in der RESOLUTE-Wissensdatenbank gipfelt, stellt eine einzigartige Ressource und einen echten Schatz für die Gemeinschaft dar“, erklärt Ulrich Goldmann, maßgeblich für die Datenintegration verantwortlich.
Giulio Superti-Furga fügt hinzu: „Wir sind zutiefst dankbar für die Unterstützung durch die Innovative Health Initiative (IHI), früher Innovative Medicines Initiative (IMI) – einer Partnerschaft der EFPIA (European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations) und der Europäischen Union – sowie für die Beiträge unserer herausragenden Partner. Ohne sie wäre dieses Projekt nicht möglich gewesen. Seit einigen Jahren trägt CeMM die Hauptverantwortung für die Validierung, Annotation, Pflege und Weiterentwicklung dieser wertvollen Plattform. Mit Blick auf die Zukunft eröffnet sich eine wertvolle Gelegenheit für Förderinstitutionen und Industriepartner, die langfristige Sicherung und Weiterentwicklung dieser Initiative aktiv mitzugestalten. Es ist keineswegs zu spät, Impulse zu setzen und Ressourcen bereitzustellen, damit dieser bedeutende Wissensschatz weiter wächst und die biomedizinische Forschung weltweit inspiriert.“
Projektmanagerin Tabea Wiedmer, die nach dem tragischen, frühen Tod von Daniel Lackner die Koordination übernahm, betont den kollaborativen Geist der Initiative: „Die Koordination eines derart großen Forschungskonsortiums war besonders während der COVID-Pandemie eine Herausforderung. Es erforderte viel Kreativität, um die Motivation und den Fokus aller Beteiligten aufrecht zu halten – aber es hat hervorragend funktioniert. Dieser Erfolg beruht wesentlich auf der effizienten Verbindung und gegenseitigen Ergänzung unterschiedlichster Fachkompetenzen.“
Highlights der vier Schlüsselstudien:
- Metabolisches Mapping der SLC-Superfamilie:
Hunderte SLC-Gene wurden systematisch ausgeschaltet oder überexprimiert, was einzigartige metabolische und genregulatorische Signaturen offenbarte. Dabei wurden potenzielle Substrate für 71 bislang unbekannte Transporter identifiziert. SLC45A4 wurde als neuartiger Polyamin-Transporter charakterisiert. Clusteranalysen legten funktionelle Subgruppen nahe, etwa in der Osmolyten-Balance oder Glykosylierung – Funktionen, die bisher keiner spezifischen SLC-Gruppe zugeordnet waren. - Das vollständige SLC-Interaktom:
Protein-Protein-Interaktionen für nahezu 400 SLCs wurden kartiert. Tausende neue Verbindungen kamen zum Vorschein und geben Hinweise zu Regulationsmechanismen der Transporter, etwa die Rolle von PDZ-Domänen bei der Lokalisierung oder die Rolle von Degrons bei der Protein-Stabilität. - Erste genetische Interaktionskarte für SLCs:
In über 35.000 Doppel-Knockout-Experimenten wurden synthetisch letale Interaktionen und funktionelle Redundanzen entdeckt – darunter neue potenzielle Angriffspunkte für Therapien, insbesondere bei mitochondrialen SLCs. Beispielsweise zeigt der Zinktransporter SLC39A1 eine unerwartete Rolle bei der metabolischen Reprogrammierung und anti-apoptotischer Signalgebung in Krebszellen. - Integrierte funktionelle Landschaft der SLCs:
Unter Nutzung der im RESOLUTE-Projekt generierten und öffentlich verfügbaren Daten wurde eine umfassende, systematische Datenbank erstellt, die biochemische und biologische Eigenschaften der SLCs kartiert. Dieser Ansatz könnte als Modell für die Integration hochdimensionaler Multi-Omics-Daten dienen.
Neue therapeutische Chancen:
SLC-Transporter spielen eine entscheidende Rolle bei einer breiten Palette von Erkrankungen, darunter Krebs, neurologische Störungen, Diabetes und vererbte Stoffwechseldefekte. Darüber hinaus ist die Wirksamkeit zahlreicher Medikamente davon abhängig, ob sie durch spezifische Transporter die Zellmembranen passieren können.
Indem RESOLUTE den Wissensstand über diese wichtigen Proteine erweitert und essenzielle Forschungswerkzeuge bereitstellt, schafft das Projekt die Grundlage für innovative Therapieansätze und bedeutende Fortschritte in der Präzisionsmedizin.
Ressourcen für die Wissenschaft:
Die im Rahmen von RESOLUTE entwickelten Reagenzien, Werkzeuge und Datensätze stehen unter https://re-solute.eu frei zur Verfügung – das ist ein Bekenntnis zu Open Science und zur Förderung weltweiter Forschungskooperation.
Quelle:
Publikation:
Die Studie „Metabolic mapping of the human solute carrier superfamily“ erschien online in der Zeitschrift Molecular Systems Biology am 12. Mai 2025. DOI: 10.1038/s44320-025-00106-4
AutorInnen: Tabea Wiedmer, Shao Thing Teoh, Eirini Christodoulaki, Gernot Wolf, Chengzhe Tian, Vitaly Sedlyarov, Abigail Jarret, Philipp Leippe, Brianda L. Santini, Fabian Frommelt, Alvaro Ingles-Prieto, Sabrina Lindinger, Barbara M. G. Barbosa, Svenja Onstein, Christoph Klimek, Julio Garcia, Iciar Serrano, Daniela Reil, Diana Santacruz, Mary Piotrowski, Stephen Noell, Christoph Bueschl, Huanyu Li, Gamma Chi, Stefan Mereiter, Tiago Oliveira, Josef M. Penninger, David B. Sauer, Claire M. Steppan, Coralie Viollet, Kristaps Klavins, J. Thomas Hannich, Ulrich Goldmann, Giulio Superti-Furga
Die Studie „The solute carrier superfamily interactome“ erschien online in der Zeitschrift Molecular Systems Biology am 12.Mai 2025. DOI: 10.1038/s44320-025-00109-1
AutorInnen: Fabian Frommelt, Rene Ladurner, Ulrich Goldmann, Gernot Wolf, Alvaro Ingles-Prieto, Eva Lineiro-Retes, Zuzana Gelová, Ann-Katrin Hopp, Eirini Christodoulaki, Shao Thing Teoh, Philipp Leippe, Manuele Rebsamen, Sabrina Lindinger, Iciar Serrano, Svenja Onstein, Christoph Klimek, Barbara Barbosa, Anastasiia Pantielieieva, Vojtech Dvorak, J. Thomas Hannich, Julian Schoenbett, Gilles Sansig, Tamara A.M. Mocking, Jasper F. Ooms, Adriaan P. IJzerman, Laura H. Heitman, Peter Sykacek, Juergen Reinhardt, André C Müller, Tabea Wiedmer, Giulio Superti-Furga
Die Studie „The genetic interaction map of the human solute carrier superfamily“ erschien online in der Zeitschrift Molecular Systems Biology am 12. Mai 2025. DOI: 10.1038/s44320-025-00105-5
AutorInnen: Gernot Wolf, Philipp Leippe, Svenja Onstein, Ulrich Goldmann, Fabian Frommelt, Shao Thing Teoh, Enrico Girardi, Tabea Wiedmer, Giulio Superti-Furga
Die Studie „Data- and knowledge-derived functional landscape of human solute carriers“ erschien online in der Zeitschrift Molecular Systems Biology am 12. Mai 2025. DOI: 10.1038/s44320-025-00108-2
AutorInnen: Ulrich Goldmann, Tabea Wiedmer, Andrea Garofoli, Vitaly Sedlyarov, Manuel Bichler, Ben Haladik, Gernot Wolf, Eirini Christodoulaki, Alvaro Ingles-Prieto, Evandro Ferrada, Fabian Frommelt, Shao Thing Teoh, Philipp Leippe, Gabriel Onea, Martin Pfeifer, Mariah Kohlbrenner, Lena Chang, Paul Selzer, Jürgen Reinhardt, Daniela Digles, Gerhard F. Ecker, Tanja Osthushenrich, Aidan MacNamara, Anders Malarstig, David Hepworth, Giulio Superti-Furga