Forschende des Argonne National Laboratory, des Max-Planck-Instituts für Kernphysik, des European XFEL und weiterer Einrichtungen haben eine neue Röntgentechnik entwickelt, die unser Verständnis der Elektronenbewegung auf mikroskopischer Ebene grundlegend verändern könnte. Um detaillierte Momentaufnahmen atomarer Prozesse zu erfassen, nutzten sie die außergewöhnlichen Möglichkeiten des European XFEL Röntgenlasers in Schenefeld bei Hamburg, dem größten Röntgenlaser der Welt. Diese stochastische stimulierte Röntgen-Raman-Streuung (s-SXRS) genannte Technik wandelt Rauschen in wertvolle Daten um und liefert Momentaufnahmen der elektronischen Strukturen von Atomen. Die Raman-Streuung dient dabei als eine Art „Fingerabdruck“ der mit Röntgenlicht beleuchteten Atome oder Moleküle und liefert Informationen über deren angeregte elektronische Zustände. Dieser bahnbrechende Ansatz könnte nach Ansicht der Wissenschaftler den Weg für wesentliche Fortschritte in der chemischen Analyse und Materialwissenschaft ebnen.
„Seit langem träumen Chemikerinnen und Chemiker davon, zu sehen, wie sich Elektronen in angeregten Zuständen bewegen, da dies chemische Reaktionen antreibt“, sagt Linda Young, Argonne Distinguished Fellow und Professorin an der University of Chicago. „Unsere Technik bringt uns der Verwirklichung dieses Traums näher.“ Die nun entwickelte superauflösende Technik hilft Forschenden, sehr eng beieinander liegende Energieniveaus in Atomen zu identifizieren. Zugleich bietet sie tiefe Einblicke in die elektronischen Strukturen, die viele chemische Eigenschaften bestimmen. „Stellen Sie sich das wie ein Upgrade von einem Standard-Fernseher auf einen Ultra-HD-Bildschirm vor“, erklärt Young. „Wir sind jetzt in der Lage, die feinen Details der Elektronenbewegung zu sehen, die zuvor verschwommen oder unsichtbar waren.“
Vielseitige Anwendungen der s-SXRS-Technik
Die stochastische stimulierte Röntgen-Raman-Streuung (s-SXRS) bietet vielfältige praktische Anwendungsmöglichkeiten. Beispielsweise kann sie uns tiefe Einblicke in die Bildung oder den Bruch chemischer Bindungen ermöglichen. Dies führt zu einem besseren Verständnis grundlegender Prozesse in der chemischen Analyse. Dieses Wissen ist entscheidend für die Entwicklung neuer Materialien mit spezifischen elektronischen Eigenschaften und hat weitreichende Auswirkungen auf Branchen wie die Elektronik und Nanotechnologie.
Aufbau und Durchführung des Experiments
In den Experimenten wurden die Röntgenblitze des European XFEL durch Neongas geleitet, woraufhin die resultierende Strahlung mit einem Spektrometer gesammelt wurde. Eine vom Max-Planck-Institut für Kernphysik entwickelte, rund fünf Millimeter große Hochdruck-Gaszelle kam dabei zum Einsatz. Der intensive Röntgenstrahl erzeugte minimale Öffnungen in den Fenstern der Zelle, die es dem Röntgenlicht ermöglichten, ein Gitterspektrometer zu erreichen. Dieses Gerät, bereitgestellt von der Universität Uppsala, zerlegt Licht in seine einzelnen Wellenlängen. Die Fachleute des European XFEL waren für die Koordination und gründliche Prüfung des gesamten Versuchsaufbaus verantwortlich. „Dadurch konnten wir optimale Fokussierungsbedingungen gewährleisten, die für die effiziente Erfassung großer Datenmengen während des Experiments entscheidend waren“, erklärt Michael Meyer.
Wenn die Röntgenstrahlen das Gas durchdringen, verstärken sie die Raman-Signale um fast das Milliardenfache. Dieses extrem starke Signal liefert innerhalb von Billionstelsekunden detaillierte Informationen über die elektronische Struktur des Gases. Durch die Analyse der Beziehung zwischen den einfallenden Impulsen und den resultierenden Raman-Signalen konnten die Forschenden ein detailliertes Energiespektrum aus vielen einzelnen Momentaufnahmen erstellen. Dies ist ein entscheidender Fortschritt, da es das langsame Abtasten verschiedener Energieniveaus überflüssig macht und so deutlich schnellere und effizientere Messungen ermöglicht.
„Die große Anzahl von Röntgen-Photonen in jedem Röntgenblitz ist der Schlüssel zur höchsten spektralen Auflösung, da viele dieser Lichtquanten gleichzeitig den Detektor treffen“, sagt Thomas Pfeifer. „Dieser Ansatz ähnelt der superauflösenden Fluoreszenzmikroskopie, für deren Entwicklung unter anderem der Max-Planck-Forscher Stefan Hell 2014 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet wurde“, fügt Pfeifer hinzu.
Statistische Analyse und Simulationen verbessern Datenextraktion
Ein wesentlicher Erfolgsfaktor war die Anwendung der Kovarianzanalyse, einer statistischen Methode, die die einfallenden Röntgenimpulse mit den emittierten Raman-Signalen verknüpft. Dadurch wurde das vormals als „Rauschen“ abgetane Signal zu einer wertvollen Informationsquelle, die die Extraktion detaillierter Daten aus komplexen Messungen ermöglicht. Dies führte nicht nur zu einer verbesserten Auflösung, sondern beschleunigte auch die Datenerfassung erheblich und lieferte schnelle, präzise Momentaufnahmen atomarer Wechselwirkungen.
Einen weiteren entscheidenden Beitrag leistete die Argonne Leadership Computing Facility (ALCF) des DOE Office of Science. Sie stellte die notwendige Rechenleistung für die Simulation komplexer Wechselwirkungen zwischen Röntgenimpulsen und Materie bereit. Diese Simulationen zeigten eine hohe Übereinstimmung mit den experimentellen Daten und lieferten zudem wertvolle Erkenntnisse über das Verhalten von Röntgenimpulsen beim Durchdringen von Gasen. Die Berechnungen waren somit ausschlaggebend für das Verständnis der Bewegungen und Wechselwirkungen und ebnen den Weg für zukünftige Forschung.
Die Forschenden sind er Auffassung, dass die s-SXRS zu einem Standardwerkzeug in Laboratorien werden könnte und Fortschritte und Innovationen in vielen Bereichen vorantreibt. Michael Meyer ist überzeugt: „Diese Studie ist ein hervorragendes Beispiel für die Leistungsfähigkeit des European XFEL, insbesondere für seine hohen Intensitäten und die kürzlich demonstrierte Erzeugung extrem kurzer Röntgenimpulse mit einer Dauer von weniger als einer Billionstel Sekunde. Diese Fortschritte werden sicherlich weitere Untersuchungen zur Entschlüsselung der Dynamik komplexer chemischer Reaktionen nach sich ziehen.“
„Wir stehen erst am Anfang dessen, was wir mit dieser Detailgenauigkeit erreichen können“, sagt Young. „Es ist eine spannende Zeit für Wissenschaft und Technologie.“
Ergänzendes Erklärvideo und O-Töne der Forschenden
Quelle
Publikation
Super-resolution stimulated X-ray Raman spectroscopy
https://www.nature.com/articles/s41586-025-09214-5