Ein Baustoff, der lebt und Kohlenstoff speichert

23. Juni 2025

Eidgenössische Technische Hochschule ETH Zürich

Forschende der ETH Zürich haben ein bahnbrechendes, lebendes Material entwickelt, das aktiv Kohlendioxid aus der Atmosphäre aufnimmt. Im Kern dieses Materials wachsen photosynthetische Blaualgen, die nicht nur Biomasse, sondern auch feste Mineralien bilden und so CO2 gleich zweifach binden. Was zunächst wie Science-Fiction klingt, ist das Ergebnis interdisziplinärer Forschung an der ETH Zürich: Hier arbeiten verschiedene Fachrichtungen gemeinsam daran, herkömmliche Werkstoffe mit Bakterien, Algen oder Pilzen zu kombinieren.

Das gemeinsame Ziel ist es, lebendige Materialien zu schaffen, die dank des Stoffwechsels von Mikroorganismen nützliche Eigenschaften erhalten. „Etwa die Fähigkeit, mittels Photosynthese CO2 aus der Luft zu binden“, erklärt Mark Tibbitt, Professor für Makromolekulares Engineering an der ETH Zürich. Unter seiner Leitung hat ein interdisziplinäres Forschungsteam diese Vision nun Realität werden lassen: Sie haben photosynthetische Bakterien – auch bekannt als Cyanobakterien oder Blaualgen – stabil in ein druckbares Gel integriert und daraus einen neuartigen Werkstoff entwickelt. Dieser Werkstoff lebt, wächst in seinem Inneren und entfernt aktiv Kohlenstoff aus der Luft. Ihre Innovation, das „photosynthetische lebende Material“, haben die Forschenden kürzlich in einer Studie vorgestellt.

Kennzeichen: Zweifache Kohlenstoffbindung

Der lebende Werkstoff lässt sich mittels 3D-Druck beliebig formen und braucht für sein Wachstum neben CO2 nur Sonnenlicht und künstliches Meerwasser mit leicht verfügbaren Nährstoffen. „Als Baumaterial könnte er in Zukunft helfen, CO2 direkt in Gebäuden zu speichern“, sagt Tibbitt, der die Forschung zu lebenden Materialien an der ETH Zürich mitinitiiert hat.

Besonders daran ist: Das lebende Material nimmt viel mehr CO2 auf, als es durch organisches Wachstum bindet. „Das liegt daran, dass das Material Kohlenstoff nicht nur in Biomasse, sondern auch in Form von Mineralien speichern kann – eine besondere Eigenschaft der Blaualgen“, verrät Tibbitt. Yifan Cui erklärt: „Cyanobakterien zählen zu den ältesten Lebensformen der Welt. Sie betreiben Photosynthese hocheffizient und können selbst schwächstes Licht verwerten, um aus CO2 und Wasser Biomasse herzustellen“.

Doppelter CO2-Speicher: Algen und Karbonate

Gleichzeitig tragen die Blaualgen durch ihre Photosynthese-Aktivität dazu bei, ihre chemische Umgebung außerhalb der Zelle zu verändern. Dies führt zur Ausfällung von festen Karbonaten, wie beispielsweise Kalk. Diese entstehenden Mineralien fungieren als zusätzliche Kohlenstoffsenke und haben den Vorteil, CO2 – im Gegensatz zur Biomasse – dauerhaft zu speichern.

Blaualgen als Baumeister

„Diese Fähigkeit nutzen wir gezielt in unserem Material“, sagt Cui, der in Tibbitts Forschungsgruppe doktoriert. Praktischer Nebeneffekt: Die Mineralien lagern sich im Innern des Materials ab und verstärken es mechanisch. So härten die Cyanobakterien die anfänglich weichen Strukturen langsam aus.

Laborversuche haben gezeigt, dass das entwickelte Material über einen beeindruckenden Zeitraum von 400 Tagen kontinuierlich CO₂ bindet, wobei der Großteil davon in mineralischer Form gespeichert wird. Pro Gramm des Materials werden dabei rund 26 Milligramm CO₂ gebunden. Diese Menge übertrifft deutlich viele bisherige biologische Ansätze und ist vergleichbar mit der chemischen Mineralisierung von Recyclingbeton, die etwa 7 Milligramm CO₂ pro Gramm bindet.

Hydrogel als Habitat

Das Trägermaterial für die CO2-bindenden Blaualgen ist ein spezielles Hydrogel – ein vernetztes Polymergel mit hohem Wasseranteil. Das Team um Tibbitt hat dieses Polymernetzwerk so konzipiert, dass es den Transport von Licht, CO2, Wasser und Nährstoffen ermöglicht. Gleichzeitig erlaubt es den Algenzellen, sich gleichmäßig im Inneren zu verteilen, ohne das Material zu verlassen. Um die Lebensdauer und Leistungsfähigkeit der Cyanobakterien zu maximieren, haben die Forschenden zudem die Geometrie der Strukturen mittels 3D-Druck optimiert. Diese Optimierung vergrößert die Oberfläche, erhöht die Lichtdurchdringung und fördert den Nährstofffluss, was allesamt entscheidend für das Wohlbefinden und die Effizienz der Algen ist.

Co-Erstautorin Dalia Dranseike: „So kreierten wir Strukturen, die nur mit einem kleinen Teil in der Nährflüssigkeit stehen und diese passiv durch Kapillarkräfte im ganzen Körper verteilen.“ Dank diesem Design hätten die eingekapselten Cyanobakterien mehr als ein Jahr lang produktiv gelebt, freut sich die Materialforscherin in Tibbitts Team.

Infrastruktur als Kohlenstoffsenke

Die Forschenden sehen ihr lebendes Material als energiearmen und umweltfreundlichen Ansatz, der CO2 aus der Atmosphäre binden und bestehende chemischen Verfahren ergänzen kann. „In Zukunft wollen wir untersuchen, wie das Material als Beschichtung für Gebäudefassaden verwendet werden kann, um während des ganzen Lebenszyklus eines Bauwerks CO2 zu binden“, blickt Tibbitt voraus.

Bis dahin ist es noch ein weiter Weg – doch Kolleg:innen aus der Architektur haben das Konzept bereits aufgenommen und erste Interpretationen experimentell umgesetzt.

Zwei Installationen in Venedig und Mailand

Dank Andrea Shin Ling hat es die Grundlagenforschung aus den ETH-Laboren auf die grosse Bühne der Architekturbiennale in Venedig geschafft. „Besonders herausfordernd war dabei, den Fertigungsprozess vom Laborformat auf Raumdimensionen zu skalieren“, sagt die Architektin und Biodesignerin, die an der vorliegenden Studie ebenfalls beteiligt ist. In ihrer Dissertation hat Ling eine Plattform für die Biofabrikation entwickelt, die lebende Strukturen mit eingebetteten Cyanobakterien im architektonischen Massstab drucken kann.

„Picoplanktonics“: Lebende Skulpturen für den Klimaschutz

Für die Installation „Picoplanktonics“ im Kanada-Pavillon nutzte das Projektteam die entwickelten gedruckten Strukturen als lebende Bausteine. Daraus wurden zwei rund drei Meter hohe, baumstrunkartige Objekte errichtet. Dank der integrierten Cyanobakterien können diese Skulpturen jeweils bis zu 18 kg CO2 pro Jahr binden – eine Menge, die in etwa der CO2-Aufnahme einer 20 Jahre alten Kiefer aus gemäßigten Zonen entspricht.

„Die Installation ist ein Experiment – wir haben den Kanada-Pavillon so angepasst, dass er genügend Licht, Feuchtigkeit und Wärme bereitstellt, damit die Cyanobakterien gedeihen. Nun beobachten wir, wie sie sich verhalten“, sagt Ling. Das verpflichtet: Das Team überwacht und pflegt die Installation vor Ort – täglich.

Auf der 24. Triennale di Milano untersucht Dafne’s Skin das Potenzial lebender Materialien für künftige Gebäudehüllen. Auf 3D-bedruckten Holzschindeln bilden Mikroorganismen eine tiefgrüne Patina, die das Holz mit der Zeit verändert: Ein Zeichen des Zerfalls wird zum aktiven Designelement, das CO2 bindet und die Ästhetik mikrobieller Vorgänge betont.

Quelle

Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH Zürich) (06/2025)

Publikation

Dranseike D, Cui Y, Ling AS et al. Dual carbon sequestration with photosynthetic living materials. Nature Communications 16, 3832 (2025). doi: 10.1038/s41467-025-58761-y
https://doi.org/10.1038/s41467-025-58761-y

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