Forschende des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF) am Universitätsklinikum Heidelberg haben einen bisher unbekannten Mechanismus von HIV-1 entschlüsselt. Unter der Leitung von Dr. Marina Lusic wies das Team nach, dass RNA:DNA-Hybride (R-Loops) dem Virus als molekulare Wegweiser dienen, um gezielt seine Integrationsorte im menschlichen Erbgut auszuwählen. Diese Erkenntnis offenbart eine zentrale Schwachstelle im Lebenszyklus von HIV-1. Die Ergebnisse liefern neue therapeutische Ansätze, um die HIV-Reservoire im Körper gezielt zu kontrollieren. Bislang stellen diese Reservoire eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu langfristigen oder heilenden HIV-Therapien dar.
Dank antiretroviraler Therapien können Menschen mit einer HIV-Infektion heute oft ein nahezu normales Leben führen. Obwohl diese Medikamente die Vermehrung des HI-Virus verhindern, müssen sie lebenslang und täglich eingenommen werden. Unterbrechungen der Behandlung – zum Beispiel durch eingeschränkten Zugang, Lieferengpässe oder mangelnde Therapietreue – führen häufig zu einem schnellen Wiederanstieg der Viruslast und begünstigen die Entstehung resistenter HIV-Stämme.
Das HI-Virus infiziert hauptsächlich Immunzellen, insbesondere T-Zellen, in denen es ein lebenslanges Infektionsreservoir bildet. Das Enzym HIV-1-Integrase schleust dabei das genetische Material des Virus dauerhaft in das Erbgut der Wirtszelle. Diese Integration zwingt die Zelle, neue Viren zu produzieren und so den Infektionsprozess fortzusetzen. „Wie HIV-1-Integrase ihre Zielstellen im Genom auswählt, war bislang nicht vollständig geklärt. Ein tieferes Verständnis dieses Vorgangs ist entscheidend, um neue Behandlungsstrategien zu entwickeln und die persistierenden viralen Reservoirs anzugehen, die durch bestehende Therapien nicht eliminiert werden“, sagt Dr. Marina Lusic, DZIF-Wissenschaftlerin am Center for Integrative Infectious Disease Research (CIID) am Universitätsklinikum Heidelberg und Leiterin der Studie.
RNA:DNA-Hybride als Wegweiser für die Virusintegration
Das Forschungsteam konnte zeigen, dass das HI-Virus nicht zufällig in das Erbgut eindringt. Stattdessen nutzt es bestimmte Wegweiser, die sogenannten RNA:DNA-Hybride oder „R-Loops“. Diese Strukturen entstehen hauptsächlich in nicht-codierenden Bereichen aktiver Gene. Die Forschenden kartierten diese Strukturen in menschlichen Immunzellen und wiesen nach, dass die virale Integrase genau an diesen Stellen andockt. „Das Virus folgt diesen Strukturen wie Wegweisern auf einer Landkarte und findet so die passenden Integrationspunkte“, erklärt Dr. Carlotta Penzo, leitende Postdoktorandin im Team von Dr. Marina Lusic und Erstautorin der Studie. „Ein weiteres wichtiges Ergebnis unserer Untersuchung ist, dass ein spezifischer zellulärer Partner, das Enzym Aquarius, dem Virus bei der Erkennung von R-Loops hilft und so die Integration von HIV-1 in RNA:DNA-Hybride erleichtert.“
Eine entscheidende Rolle in diesem Prozess spielt das Enzym RNA-Helikase Aquarius (AQR). Es fungiert als eine Art „Türöffner“, indem es sich mit der HIV-1-Integrase verbindet. Dabei entwindet das Enzym die R-Loops und fördert so die Integration des viralen Erbguts in die Wirtszelle. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Eliminierung von AQR dazu führt, dass die Integrationsrate deutlich abnimmt. Die verbleibenden Integrationsereignisse verlagern sich in R-Loop-arme Regionen – ein klarer Beleg für das Zusammenspiel von viraler Integration und AQR-Aktivität an R-Loops“, so Penzo.
„Diese Entdeckung eröffnet eine völlig neue Perspektive für zukünftige HIV-Therapien. Wenn es uns gelingt, die Fähigkeit des Virus zu stören, RNA-Strukturen der Wirtszelle für die Integration zu nutzen, könnten wir gezielt verhindern, wo sich HIV im Genom versteckt – und somit den Weg zu einer langfristigen oder sogar heilenden Therapie ebnen“, sagt Dr. Marina Lusic. „Diese Erkenntnisse gewinnen besondere Bedeutung angesichts der zunehmenden globalen Instabilität in der HIV-Versorgung. In vielen Regionen ist die kontinuierliche Bereitstellung antiretroviraler Therapien nicht gesichert – mit der Folge, dass Unterbrechungen das Risiko von Therapieversagen und der Verbreitung resistenter Virusvarianten deutlich erhöhen.“
Die Ergebnisse der Studie zeigen neue Ansatzpunkte zur Bekämpfung des HI-Virus auf. Der identifizierte R-Loop/Aquarius-Mechanismus könnte langfristig dabei helfen, HIV-Reservoire im Körper gezielt anzugreifen, die durch bestehende Therapien bislang nicht beseitigt werden können. Dies eröffnet neue Wege für wirksame, möglicherweise sogar heilende Behandlungsformen.
Quelle
Deutsches Zentrum für Infektionsforschung (09/2025)
Publikation
Penzo C, Özel I, Martinovic M, Kuzman M, Glavas D, Stanic M, Reichenbach T, Müller TG, Rheinberger M, Godarzi N, Lapaillerie D, Srezovic B, dell’Oca MC, Lange LC, Sadhu L, de Castro IJ, Shytaj IL, Forcato M, Laketa V, Bicciato S, Vlahovicek K, Fackler OT, Lucic B, Pena V, Kräusslich HG, Parissi V, Lusic M. Aquarius helicase facilitates HIV-1 integration into R-loop enriched genomic regions. Nat Microbiol. 2025 Sep;10(9):2306-2322. doi: 10.1038/s41564-025-02089-2. Epub 2025 Aug 20. PMID: 40836041.
https://doi.org/10.1038/s41564-025-02089-2