Ein interdisziplinäres Forschungsteam aus Hamburg hat eine neuartige Methode namens 5D-Serien-Synchrotronkristallographie (5D-SSX) entwickelt. Mit dieser Methode können Forschende die Struktur von Proteinen über einen weiten Temperaturbereich, einschließlich physiologisch relevanter Bedingungen, zeitaufgelöst untersuchen. Der neue Ansatz erlaubt es, temperaturgesteuerte Strukturschnappschüsse während enzymatischer Reaktionen aufzunehmen. So lassen sich Einblicke in die Proteinfunktion unter nahezu nativen Bedingungen gewinnen.
Bisher wurden die meisten hochauflösenden Proteinstrukturen bei kryogenen Temperaturen ermittelt, die von den physiologischen Bedingungen stark abweichen. Die Temperatur spielt jedoch eine wichtige Rolle bei der Modulation von Enzymaktivität und Proteindynamik. Auch die zeitaufgelöste Kristallographie, die genutzt wird, um die strukturellen Grundlagen von Katalyse, Allosterie und Ligandenbindung aufzudecken, wird typischerweise bei Umgebungstemperaturen durchgeführt. Dadurch können bestimmte Konformationszustände übersehen werden, die erst bei physiologischen Temperaturen sichtbar werden.
5D-SSX-Methode überwindet Einschränkungen
Das Forscherteam – bestehend aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Hamburg (UHH), des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), des Max-Planck-Instituts für Struktur und Dynamik der Materie (MPSD) und des Europäischen Molekularbiologischen Laboratoriums (EMBL) in Hamburg – hat einen neuartigen Arbeitsablauf entwickelt, um bestehende Einschränkungen zu überwinden.
Mithilfe der 5D-Serien-Synchrotronkristallographie (5D-SSX) ist es Forschenden nun möglich, serielle Synchrotronkristallographie zu definierten Zeitpunkten und in einem weiten Temperaturbereich von unter 10 °C bis über 70 °C durchzuführen.
Um das Potenzial ihrer Methode zu demonstrieren, hat das Team sogenannte Proof-of-Concept-Experimente durchgeführt. Dabei konnten sie einen temperaturabhängigen enzymatischen Umsatz sowohl beim mesophilen Enzym β-Lactamase CTX-M-14 als auch beim thermophilen Enzym Xylose-Isomerase nachweisen. Diese neue Methode zeigt, wie die Reaktionskinetik und die Konformationslandschaften durch die Temperatur moduliert werden. Dadurch können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Enzymmechanismen unter biologisch relevanten Bedingungen untersuchen.
„Die größte Herausforderung bei diesem Projekt bestand darin, die große Menge an Wasserdampfkondensat so zu bewältigen, dass es nicht in die empfindliche Synchrotron-Endstation direkt darunter gelangen konnte“, sagt Friedjof Tellkamp, Leiter der Zentralen Wissenschaftlichen Einheit Maschinenphysik am MPSD, der die Entwicklung der Umgebungskammer leitete.
Perspektiven für die Biomedizin
Dr. Eike C. Schulz fügt hinzu: „5D-SSX eröffnet völlig neue Perspektiven für die biomedizinische Forschung. Das Verständnis der Dynamik von Proteinen unter realistischen Bedingungen ist von entscheidender Bedeutung, insbesondere bei der Entwicklung von Antibiotika oder der Aufklärung krankheitsrelevanter Mechanismen.“ Die Studie zeigt, dass die Integration von Zeit und Temperatur in kristallographische Arbeitsabläufe einen vollständigeren und physiologisch aussagekräftigeren Einblick in die Proteinfunktion ermöglicht – Momentaufnahme für Momentaufnahme.
Quelle
Max-Planck-Institut für Struktur und Dynamik der Materie (08/2025)
Publikation
Probing the modulation of enzyme kinetics by multi-temperature, time-resolved serial crystallography
E.-C. Schulz, A. Prester, D. von Stetten, G. Gore, C. E. Hatton, K. Bartels, J.-P. Leimkohl, H. Schikora, H. M. Ginn, F. Tellkamp, P. Mehrabi
Nature Communications 16 (1), 6553 (2025)
https://dx.doi.org/10.1038/s41467-025-61631-2