Maschinelles Lernen entlockt die atomaren Geheimnisse von Dünnschichten

19. August 2025

Ein interdisziplinäres Forschungsteam der Empa hat die atomare Struktur von amorphem Aluminiumoxid nun erstmals präzise modelliert. Dieses Material wird häufig als schützende Dünnschicht oder in Membranen verwendet, doch die genauen atomaren Prozesse darin waren bisher kaum verstanden. Durch den Einsatz innovativer Experimente und maschinellen Lernens konnte das Team Licht in die ungeordnete Struktur dieses wichtigen Werkstoffs bringen.

Aluminiumoxid, mit der chemischen Formel Al2O3, ist ein in der Materialwissenschaft weit verbreitetes und gut erforschtes Material, vergleichbar mit einer Fruchtfliege. In der Erdkruste ist es als Mineral Korund sowie in den Varianten Saphir und Rubin zu finden. Es wird vielfältig eingesetzt, beispielsweise in der Elektronik, der chemischen Industrie und für technische Keramiken.

Eine besondere Eigenschaft des Materials ist seine Fähigkeit, trotz gleicher chemischer Zusammensetzung verschiedene Strukturen anzunehmen. Während die meisten seiner kristallinen Formen gut verstanden sind, gab es bisher eine Ausnahme: die amorphe, also ungeordnete, Variante. Diese amorphe Aluminiumoxidform ist für High-Tech-Anwendungen besonders attraktiv, da sie sich hervorragend für die Herstellung gleichmäßiger Schutzbeschichtungen und ultradünner Passivierungsschichten eignet.

Trotz seiner weiten Verbreitung und dem Knowhow zu seiner Verarbeitung ist amorphes Aluminiumoxid auf atomarer Ebene noch relativ unerforscht. „Kristalline Materialien bestehen aus kleinen, sich regelmässig wiederholenden Untereinheiten“, erklärt Empa-Forscher Vladyslav Turlo aus dem Labor „Advanced Materials Processing“ in Thun. Dadurch lassen sie sich relativ leicht bis auf ein Atom genau untersuchen – und am Computer modellieren. Denn wer die Interaktion von Atomen in einer einzigen Kristall-Einheit berechnen kann, kann auch ganz einfach grössere Kristalle aus mehreren Einheiten berechnen.

Amorphe Materialien haben keine derart periodische Struktur. Die Atome liegen mehr oder weniger wild durcheinander – schwer zu untersuchen und noch schwerer zu modellieren. „Wenn wir das Wachstum einer dünnen Beschichtung aus amorphem Aluminiumoxid auf atomarer Ebene von Grund auf simulieren würden, würde die Berechnung mit heutigen Methoden länger dauern als das Alter des Universums“, so Turlo. Genaue Simulationen sind aber der Schlüssel zur effektiven Materialforschung: Sie helfen Forschenden dabei, ihre Materialien zu verstehen und deren Eigenschaften zu optimieren.

Genau simuliert und experimentell bestätigt

Ein Forschungsteam der Empa unter der Leitung von Turlo hat eine bahnbrechende Methode entwickelt, um amorphes Aluminiumoxid am Computer zu modellieren – schnell, präzise und effizient. Ihr Modell, das experimentelle Daten, Hochleistungssimulationen und maschinelles Lernen miteinander kombiniert, ist das erste, das detaillierte Informationen über die atomare Anordnung in amorphen Aluminiumoxidschichten liefert.

Dieser Erfolg beruht auf einer interdisziplinären Zusammenarbeit mehrerer Empa-Labore. Die Wissenschaftler Turlo und Simon Gramatte, der Erstautor der Studie, nutzten für die Modellentwicklung experimentelle Daten, die in den Laboren „Mechanics of Materials and Nanostructures“ und „Joining Technologies and Corrosion“ in Dübendorf gewonnen wurden. Dort wurden amorphe Aluminiumoxid-Dünnschichten mittels Atomlagenabscheidung hergestellt und analysiert.

Die Rolle des Wasserstoffs in der Modellierung

Ein entscheidender Vorteil des neuen Modells ist die Berücksichtigung von Wasserstoffatomen, die je nach Herstellungsmethode in unterschiedlichen Mengen im amorphen Aluminiumoxid eingeschlossen sind. Da Wasserstoff das kleinste Element ist, war es bisher sehr schwierig zu messen und zu modellieren. Dank einer innovativen Spektroskopie-Methode namens HAXPES (High-Energy X-ray Photoelectron Spectroscopy), die in der Schweiz nur an der Empa verfügbar ist, konnten die Forscher den chemischen Zustand des Aluminiums in den Schichten charakterisieren. Auf dieser Grundlage war es erstmals möglich, die Verteilung des Wasserstoffs im Material abzuleiten und in die Simulation einzubeziehen. „Wir konnten zeigen, dass sich der Wasserstoff ab einem bestimmten Gehalt an den Sauerstoff im Material bindet und so den chemischen Zustand der anderen Elemente beeinflusst“, sagt Ko-Autorin Claudia Cancellieri. Das verändert die Materialeigenschaften: Das Aluminiumoxid wird dadurch „lockerer“, also weniger dicht.

Durchbruch für grünen Wasserstoff

Das neu gewonnene Verständnis der atomaren Struktur von amorphem Aluminiumoxid eröffnet vielversprechende Wege für dessen Einsatz in neuen Anwendungsgebieten. Turlo sieht besonders großes Potenzial in der Produktion von grünem Wasserstoff. Dieser wird durch die Spaltung von Wasser mithilfe von erneuerbaren Energien oder sogar direktem Sonnenlicht erzeugt. Für diesen Prozess sind effektive Filtermaterialien unerlässlich, da sie den entstehenden Wasserstoff vom Sauerstoff trennen müssen, indem sie nur eines der beiden Gase passieren lassen. Das detaillierte Wissen über die Struktur des amorphen Aluminiumoxids kann nun dazu beitragen, solche Filter gezielter zu entwickeln und zu optimieren. „Amorphes Aluminiumoxid ist ein enorm vielversprechendes Material für diese Wasserstoffmembranen“, sagt Turlo. „Dank unserem Modell gewinnen wir ein besseres Verständnis davon, wie der Wasserstoffgehalt im Material die Diffusion von gasförmigem Wasserstoff im Vergleich zu grösseren Gasmolekülen begünstigt.“ In Zukunft wollen die Empa-Forschenden anhand der Modellierungen gezielt Aluminiumoxid-Membranen herstellen.

„Ein atomares Verständnis unserer Materialien erlaubt uns, die Materialeigenschaften – sei es in Bezug auf Mechanik, Optik oder Durchlässigkeit – viel gezielter zu optimieren“, sagt Materialforscher Utke. Das Modell kann nun bei allen Anwendungen von amorphem Aluminiumoxid zu Verbesserungen führen – und mit der Zeit auch auf weitere amorphe Materialien übertragen werden. „Wir haben gezeigt, dass eine genaue Simulation von amorphen Materialien möglich ist“, resümiert Turlo. Und dank maschinellem Lernen dauert der Prozess nur noch rund einen Tag – anstelle von Milliarden von Jahren.

Quelle

Empa – Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (08/2025)

Publikation

S Gramatte, O Politano, N Jakse, C Cancellieri, I Utke, LPH Jeurgens, V Turlo: Unveiling hydrogen chemical states in supersaturated amorphous alumina via machine learning-driven atomistic modeling; npj Computational Materials (2025); doi: 10.1038/s41524-025-01676-5
https://doi.org/10.1038/s41524-025-01676-5

C Cancellieri, S Gramatte, O Politano, L Lapeyre, FF Klimashin, K Mackosz, I Utke, Z Novotny, AM Müller, C Vockenhuber, V Turlo, LPH Jeurgens: Effect of hydrogen on the chemical state, stoichiometry and density of amorphous Al2O3 films grown by thermal atomic layer deposition; Surface and Interface Analysis (2024); doi: 10.1002/sia.7282
https://doi.org/10.1002/sia.7282

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