Tumordiagnostik: KI-Modell erkennt mehr als 170 Krebsarten

11. Juni 2025

Stellen Sie sich vor: Ein MRT-Bild zeigt einen Hirntumor an einer so ungünstigen Stelle, dass eine Biopsie hohe Risiken für den Patienten birgt. Die Symptome – in diesem Fall das Sehen von Doppelbildern – sind eindeutig, doch die Diagnose bleibt eine Herausforderung. Solche Situationen, wie sie häufig in multidisziplinären Expertenteams der Krebsmedizin besprochen werden, haben Forschende der Charité – Universitätsmedizin Berlin dazu motiviert, neue Wege für die Diagnosestellung zu finden.

Das Ergebnis ihrer Arbeit ist ein innovatives KI-Modell. Es basiert auf der Analyse spezifischer Merkmale im Erbgut von Tumoren – genauer gesagt, auf deren epigenetischem Fingerabdruck, der unter anderem aus dem Nervenwasser gewonnen wird. Wie das Team kürzlich demonstrierte, ermöglicht dieses neue Modell eine schnelle und äußerst zuverlässige Klassifizierung von Hirntumoren. Das könnte künftig riskante Biopsien in bestimmten Fällen überflüssig machen und die Diagnose für Patienten mit schwer zugänglichen Tumoren erheblich verbessern.

Präzisionsmedizin bei Tumoren: Einblicke in Diagnose und Therapie

Heute kennen wir weitaus mehr Tumorarten als die Organe, aus denen sie entstehen. Jeder Tumor besitzt seine einzigartigen Charakteristika, darunter spezifische Gewebemerkmale, Wachstumsraten und Stoffwechselbesonderheiten. Trotz dieser Vielfalt lassen sich Tumortypen mit ähnlichen molekularen Eigenschaften in Gruppen zusammenfassen. Die genaue Art des Tumors ist entscheidend für die Auswahl der individuellen Behandlung.

Moderne, zielgerichtete Therapien sprechen gezielt bestimmte Strukturen von Tumorzellen an oder unterbrechen deren Signalwege, um das krankhafte Wachstum zu stoppen. Auch Chemotherapien können je nach Tumortyp ausgewählt und in ihrer Dosierung angepasst werden. Für besonders seltene Tumorarten besteht zudem die Möglichkeit, im Rahmen von Studien Zugang zu neuartigen Therapien zu erhalten.

Herausforderungen bei der Tumordiagnose: Warum KI neue Wege ebnet

„Vor dem Hintergrund einer zunehmend personalisierten, sich schnell entwickelnden Krebsmedizin ist eine präzise Diagnosestellung an einem zertifizierten Tumorzentrum wegweisend für eine erfolgreiche Behandlung“, sagt Prof. Martin E. Kreis, Vorstand Krankenversorgung der Charité. Obwohl eine umfassende molekulare, zelluläre und funktionelle Analyse von Tumoren mittels Gewebeproben die notwendigen Informationen liefert, stehen Mediziner:innen oft vor der Herausforderung, dass eine Entnahme von Tumorgewebe entweder unmöglich oder mit erheblichen Risiken für Patient:innen verbunden ist. Erschwerend kommt hinzu, dass selbst eine detaillierte feingewebliche Untersuchung allein nicht die Präzision des neuen KI-Modells bei der Diagnosestellung erreicht.

Blick ins Erbgut statt ins Gewebe

Für die genaue Charakterisierung von Hirntumoren hat sich eine innovative Methode etabliert, die über die herkömmliche mikroskopische Diagnostik hinausgeht. Sie basiert auf der Analyse von epigenetischen Merkmalen – Modifikationen des Tumorerbguts. Diese epigenetischen Signaturen sind Teil des zellulären Gedächtnisses und steuern, welche Abschnitte der Erbinformation zu welchem Zeitpunkt abgelesen werden. Sie liefern somit entscheidende Hinweise auf die Art und das Verhalten eines Tumors. „Hundertausende epigenetische Modifikationen fungieren als An- und Ausschalter einzelner Genabschnitte. Ihre Muster bilden einen unverwechselbaren Fingerabdruck“, erklärt PD Dr. Philipp Euskirchen, Wissenschaftler am Standort Berlin des Deutschen Konsortiums für translationale Krebsforschung (DKTK) und am Institut für Neuropathologie der Charité, Leiter der jetzt veröffentlichten Studie. „In Tumorzellen sind die epigenetischen Informationen auf jeweils charakteristische Weise verändert. Anhand ihrer Profile können wir Tumoren unterscheiden und sie klassifizieren.“ Im Fall von Hirntumoren genügt dazu in manchen Fällen sogar eine Probe des Nervenwassers, die vergleichsweise einfach gewonnen werden kann und keiner Operation bedarf.

KI-Modell crossNN
KI-Modell crossNN: Das Modell gleicht epigenetische Daten unbekannter Tumoren mit den Fingerabdrücken von über 8000 Referenztumoren ab. Ein Kreuz markiert den zu untersuchenden Tumor. Die Visualisierung zeigt die große Menge an Daten, auf denen das Modell basiert. Jeder Punkt repräsentiert das Profil eines Referenztumors mit jeweils mehreren Hunderttausend Informationen, jede Farbe einen bestimmten Tumortyp.
© Charité | Philipp Euskirchen

Die Rolle der KI bei der Entschlüsselung epigenetischer Fingerabdrücke

Um einen unbekannten epigenetischen Fingerabdruck präzise mit den Tausenden bereits bekannten Signaturen verschiedener Krebserkrankungen abzugleichen und einem spezifischen Tumortyp zuzuordnen, sind Methoden des maschinellen Lernens – also Künstliche Intelligenz (KI) – unerlässlich. Der Grund liegt in der schieren Menge und Komplexität der Daten.

Erschwerend kommt hinzu, dass in der Vergangenheit unterschiedliche Methoden der DNA-Sequenzierung zum Einsatz kamen. Zudem beschränken sich epigenetische Analysen oft auf festgelegte Muster und Genabschnitte, die nur für einzelne Tumorarten typisch sind. Hier setzt die KI an, um diese komplexen Datenmengen effizient zu verarbeiten und zuverlässige Diagnosen zu ermöglichen. „Unser Ziel war es daher, ein Modell zu entwickeln, das Tumoren genau klassifiziert, selbst wenn nur Teile des gesamten Tumor-Epigenoms zugrunde liegen oder die Profile mit unterschiedlichen Techniken und variierender Genauigkeit erhoben wurden“, sagt Bioinformatiker Dr. Sören Lukassen, Leiter der Arbeitsgruppe Medical Omics des Berlin Institute of Health in der Charité (BIH).

Zuverlässig und nachvollziehbar

Das neu entwickelte KI-Modell CrossNN basiert auf der Architektur eines einfachen neuronalen Netzwerks und wurde mit einer großen Menge an Referenztumoren trainiert. Seine Leistungsfähigkeit wurde anschließend an über 5.000 Tumoren überprüft. „Unser Modell erlaubt in 99,1 Prozent aller Fälle eine sehr präzise Diagnosestellung von Hirntumoren und ist genauer als bisherige KI-Modelle“, sagt Philipp Euskirchen. „Darüber hinaus konnten wir auf gleiche Weise ein KI-Modell trainieren, das über 170 Tumorarten aus allen Organen mit einer Treffsicherheit von 97,8 Prozent unterscheiden kann. Damit lässt es sich über die relativ seltenen Hirntumoren hinaus für Krebserkrankungen aller Organe anwenden.“ Entscheidend für künftige Zulassungen in der klinischen Anwendung: Die Modelle sind vollständig erklärbar, das heißt, es ist nachvollziehbar, wie die Entscheidungen getroffen werden.

Liquid Biopsy: Eine schonende Alternative zur Hirntumor-Diagnose

Der molekulare Fingerabdruck, den das KI-Modell zur Bestimmung eines Hirntumors nutzt, kann entweder aus einer Gewebeprobe oder aus Körperflüssigkeiten gewonnen werden. Das Institut für Neuropathologie der Charité bietet für bestimmte Hirntumoren bereits jetzt eine nicht-invasive Diagnostik an, die Liquid Biopsy. Dabei wird Nervenwasser analysiert.

Diese Methode ermöglicht eine Diagnosestellung ohne eine belastende Operation, selbst in schwierigen Fällen. Davon profitierte beispielsweise der Patient, der sich ursprünglich wegen des Sehens von Doppelbildern vorgestellt hatte. „Wir haben das Hirnwasser mittels Nanopore-Sequenzierung, einer neuartigen, sehr schnellen und effizienten Form der Erbgutanalyse, untersucht. Die Klassifikation durch unsere Modelle ergab, dass es sich um ein Lymphom des zentralen Nervensystems handelte. Eine geeignete Chemotherapie konnte zeitnah begonnen werden“, schildert Philipp Euskirchen.

crossNN in der klinischen Erprobung

Die Genauigkeit der Methodik überraschte selbst die Forschenden. „Obwohl die Architektur unseres KI-Modells sehr viel einfacher ist als bisherige Ansätze und dadurch erklärbar bleibt, liefert es präzisere Vorhersagen und damit eine höhere diagnostische Sicherheit“, sagt Sören Lukassen. Das Forschungsteam plant, CrossNN in klinischen Studien an allen acht deutschen DKTK-Standorten (Deutsches Konsortium für Translationale Krebsforschung) zu erproben. Darüber hinaus soll der Einsatz des KI-Modells auch intraoperativ getestet werden. Das übergeordnete Ziel ist es, die exakte und vergleichsweise kostengünstige Tumorbestimmung anhand von DNA-Proben in die Routineversorgung zu integrieren.



Quelle: Charité – Universitätsmedizin Berlin (06/2025)


Publikation:
Yuan D et al. cossNN is an explainable framework for cross-platform DNA methylation-based classification of tumors. Nature Cancer. 2025 June 06. doi: 10.1038/s43018-025-00976-5
https://www.nature.com/articles/s43018-025-00976-5

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