Mensch und Umwelt sind täglich Hunderten von Chemikalien ausgesetzt. Obwohl jede Substanz einzeln als sicher gilt, unterschätzt die aktuelle Chemikalienregulierung die addierten Risiken dieser sogenannten „chemischen Cocktails“, so die Argumentation eines Policy-Artikels. Die Autoren fordern europäische Entscheidungsträger auf, in der bevorstehenden Revision der EU-Chemikalienverordnung REACH einen „Mixture Allocation Factor (MAF)“ einzuführen. Das soll diesen kombinierten Wirkungen systematisch Rechnung tragen.
„Chemikaliensicherheit kann nicht gewährleistet werden, wenn man Stoffe nur einzeln betrachtet“, erklärt Professor Thomas Backhaus. „Wir brauchen dringend ein System, das anerkennt, dass wir ständig komplexen Mischungen ausgesetzt sind.“
Wichtigkeit und Gefahren chemischer Mischungen
Forschungsergebnisse belegen, dass Chemikalienmischungen – selbst wenn jede einzelne Substanz die gesetzlichen Grenzwerte einhält – Gesundheit und Umwelt schädigen können. Denn die kombinierte Exposition kann den sicheren Bereich überschreiten. Studien zu Fortpflanzungsstörungen zeigen beispielsweise, dass reale Gemische aus Pestiziden und Weichmachern bei Tieren Entwicklungsstörungen auslösen können, und zwar bei Konzentrationen, die weit unterhalb der offiziellen Grenzwerte liegen. Ähnliche Erkenntnisse stammen aus der Umweltforschung, die belegt, dass Schadstoffe komplex, aber vorhersagbar zusammenwirken.
Die Autoren betonen, dass das Prinzip der Konzentrationsadditivität – eine wissenschaftlich fundierte Methode zur Abschätzung der kombinierten Effekte, die bereits zur Bewertung dioxinähnlicher Schadstoffe genutzt wird – angewendet werden sollte. Die derzeitige Vernachlässigung der Mischungstoxizität widerspricht sowohl der empirischen Evidenz als auch fundamentalen biologischen Erkenntnissen, da Zellen und Organe ebenso wenig isoliert agieren wie die Chemikalien selbst.
Vorschlag des Mixture Allocation Factor (MAF)
Um diese wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Politik zu überführen, schlagen die Forschenden die Einführung des Mixture Allocation Factor (MAF) vor. Das Konzept ist intuitiv: Jede einzelne Chemikalie beansprucht einen Anteil an einem gemeinsamen „Risikobecher“, der die Gesamtbelastung repräsentiert, welche Menschen oder Ökosysteme noch sicher tolerieren können. Durch die gezielte Anpassung des Anteils, den jede Substanz zu diesem Becher beitragen darf, soll sichergestellt werden, dass die sichere Gesamtbelastung nicht überschritten wird.
Dabei ist wichtig: Der MAF würde Hersteller von Chemikalien, die nur ein geringes Risiko darstellen, nicht benachteiligen. Strengere Kontrollen oder Emissionsminderungen müssten lediglich für jene Stoffe erfüllt werden, die maßgeblich zum Gesamtrisiko beitragen. Dieser Ansatz ermöglicht einen realistischeren Schutz der Gesundheit und der Umwelt, ohne die Verwaltung übermäßig zu belasten.
Ein pragmatischer Schritt nach vorn
Die Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit der Europäischen Kommission hat die Notwendigkeit eines solchen Mechanismus zur Berücksichtigung von Mischwirkungen bereits anerkannt. Zudem unterstützen mehrere EU-Mitgliedstaaten, darunter Schweden, Dänemark, Finnland und Luxemburg, die Aufnahme des Mixture Allocation Factor (MAF) in die REACH-Verordnung.
Die Autoren schlagen vor, die Implementierung mit einem moderaten MAF-Wert – beispielsweise 5 – zu beginnen und diesen Wert dann schrittweise anzupassen, sobald neue Daten verfügbar sind. Die Forschenden sind der Ansicht, dass die Einführung des MAF die EU-Chemikalienregulierung wissenschaftlich fundierter und zukunftssicherer machen würde. Sie vergleichen diesen Ansatz mit der Logik, nach der bereits heute Treibhausgase in CO2-Äquivalente umgerechnet werden, um ihre kombinierte Wirkung besser bewerten zu können. „Es ist höchste Zeit, dass das Chemikalienmanagement mit dem Schritt hält, was Biologie und Umweltwissenschaft schon lange zeigen“, sagt Backhaus. „Ein mischungsbewussteres REACH würde den Schutz von Mensch und Umwelt verbessern und gleichzeitig Innovation in der chemischen Industrie fördern.“
Quelle
RWTH Aachen University (11/2025)
Publikation
Include a mixture allocation factor to improve EU chemical risk management
Thomas Backhaus, Martin Scholze, Werner Brack, Olwenn Martin, Daniel Slunge, Marlene Ågerstrand, Andreas Kortenkamp, and Beate Escher
https://www.science.org/doi/10.1126/science.aeb6374