Phänomene wie die Haftung von Geckos oder die Verflüssigung von Stickstoff bei −196∘C sind auf Van-der-Waals-Kräfte zurückzuführen – intermolekulare Bindungen, deren mathematische Berechnung bisher oft schwierig war. Seit Längerem bestand das Problem, dass verschiedene Rechenmethoden zu unterschiedlichen Ergebnissen führten. Nun gelang es einem Team der TU Wien, diese Diskrepanz zu klären und zu lösen: Es zeigte sich, dass ausgerechnet die Methode, die lange als „Goldstandard“ der Quantenchemie galt, die Bindungsenergie zwischen Molekülen systematisch falsch einschätzt. Mit einer neuen, verbesserten Methode kann jetzt das Verhalten großer Moleküle korrekt vorhergesagt werden. Dies ist besonders für biologische Systeme und den Bereich erneuerbarer Energien unverzichtbar.
Ein Rätsel der Chemie
„Um Bindungen zwischen großen Molekülen zu beschreiben, verwendet man unterschiedliche Methoden“, sagen die Erstautoren Tobias Schäfer und Andreas Irmler. Gemeinsam mit Alejandro Gallo und Prof. Andreas Grüneis haben sie verschiedene Herangehensweisen miteinander verglichen. „Man nutzt zum Beispiel Quanten-Monte-Carlo-Methoden, bei denen ein Computer unzählige Anordnungen der Elektronen durchspielt. Energetisch vorteilhafte Anordnungen werden behalten und schlechte aussortiert. Oder man setzt sogenannte Coupled Cluster Methoden ein.“ Dabei werden die Moleküle zunächst so betrachtet, als befänden sie sich in Zuständen relativ niedrigerer Energie. Höhere Energiezustände werden dann nachträglich als eine Art „Fehlerkorrektur“ in die Berechnung miteinbezogen.
„Diese Variante, die Coupled-Cluster-Methode, gilt eigentlich als Goldstandard“, sagt Tobias Schäfer. „Doch je genauer man hinsah, desto deutlicher wurden kleine, aber hartnäckige Abweichungen zur Monte-Carlo-Methode. Die Frage, warum das so ist, war schon länger offen.“
Das Team konnte nun nachweisen, dass die Coupled-Cluster-Methode grundlegende Probleme aufweist, sobald sie auf große Moleküle angewandt wird.: „Wir haben entdeckt, dass sie die Bindungsenergien in großen, stark polarisierbaren Molekülen systematisch überschätzt“, sagt Andreas Irmler. „Mit unserer verbesserten Variante können wir diese Abweichung korrigieren, ohne den Rechenaufwand maßgeblich zu erhöhen.“ Mit dieser Korrektur stimmen die Ergebnisse nun deutlich besser mit den Quanten-Monte-Carlo-Methoden überein.
Große Moleküle – große Bedeutung
Besonders wichtig ist das bei großen Molekülen. „Wenn man das Verhalten von Molekülen mit bis zu hundert Atomen erklären will, ist der Rechenaufwand enorm“, sagt Alejandro Gallo. „Selbst die größten Supercomputer der Welt stoßen hier an ihre Grenzen. Man braucht ausgeklügelte Näherungsmethoden, um in solchen Fällen zuverlässige Einschätzungen zu erhalten.“
Doch gerade die Welt der großen Moleküle wird immer wichtiger – etwa in der Forschung an neuen Materialien oder pharmazeutischen Wirkstoffen. „Wenn man wissen möchte wie ein Wirkstoff in einer Tablette kristallisiert, oder wie stark ein Material Wasserstoff zur Energiespeicherung bindet, muss man die Van-der-Waals-Kräfte korrekt einschätzen können.“, sagt Tobias Schäfer.
Praxistaugliche Modelle
Diese Forschungsarbeit liefert zuverlässigere Referenzdaten, die nicht nur für klassische Simulationen entscheidend sind, sondern auch als Trainingsdaten für KI-Modelle dienen können. Solche Modelle werden gegenwärtig bereits zur virtuellen Entwicklung von Materialien eingesetzt.
„Wir schlagen eine Brücke zwischen höchster Genauigkeit und praktischer Anwendbarkeit“, sagt Prof. Andreas Grüneis vom Institut für theoretische Physik. „Das eröffnet neue Möglichkeiten für die Materialwissenschaft. Die Ergebnisse zeigen, dass selbst etablierte Methoden regelmäßig auf den Prüfstand gestellt werden müssen, um mit den wachsenden Anforderungen der Wissenschaft Schritt zu halten.“
Quelle
Technische Universität Wien (10/2025)
Publikation
T. Schäfer et al., Understanding discrepancies in noncovalent interaction energies from wavefunction theories for large molecules, Nature Communications 16, 9108 (2025).
https://www.nature.com/articles/s41467-025-64104-8