Viren verfügen über zahlreiche Tricks. Oft dauert es nicht lange, bis sich bei Krankheitserregern wie SARS-CoV-2 aus einer gerade noch aktuellen Virusvariante bereits eine neue Variante entwickelt hat. Wenn diese neuen Mutationen der Immunantwort im menschlichen Körper besser entkommen als das ursprüngliche Virus, setzt sie sich rasch durch und dominiert zunehmend das Infektionsgeschehen. "Wenn die neue Virusvariante der Immunantwort erfolgreich entgehen kann, reicht es nicht mehr aus, von einer der vorherigen Varianten genesen oder mit einem vormals wirksamen Impfstoff geimpft zu sein", sagt Prof. Luka Cicin-Sain, Leiter der Abteilung "Virale Immunologie" am HZI. "Mit der Impfstoffentwicklung laufen wir der Verbreitung neuer Virusvarianten mit Immun-Escape immer hinterher, das liegt in der Natur der Sache. Aber den großen Vorsprung, den die Viren heute noch haben, müssen wir auch mit Blick auf künftige Pandemien dringend verkleinern."
Um schnell angepasste Impfstoffe entwickeln zu können, ist es entscheidend, die Mutationen zu identifizieren, die für den Immun-Escape neuer Virusvarianten verantwortlich sind. Das Team um Cicin-Sain präsentiert in seiner aktuellen Studie einen vielversprechenden neuen Ansatz, der auf dem bekannten Verfahren des Mutational Scanning basiert. Anstatt vom Ursprungsvirus auszugehen, verwenden die Forschenden die neue Virusvariante als Ausgangspunkt für ihre Untersuchungen. Diese rückwärts gerichtete Methodik haben sie Reverse Mutational Scanning genannt.
So funktioniert Reverse Mutational Scanning
Wie genau funktioniert Reverse Mutational Scanning und welches Vorgehen hat das Forschungsteam gewählt? Um ihren neuen Ansatz zu testen, untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler exemplarisch Virusvarianten von SARS-CoV-2. Ihr Ziel war es herauszufinden, welche der 33 Mutationen, die die Virusvariante BA.2.86 von der ursprünglichen Variante BA.2 unterscheiden, für den Immun-Escape verantwortlich sind.Mit Hilfe genetischer Methoden erzeugten die Forschenden zunächst sogenannte Pseudoviren, die zwar in Zellen eindringen können, sich jedoch nicht vermehren und somit für Mensch und Umwelt ungefährlich sind. Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen war die neue Virusvariante mit Immun-Escape, also BA.2.86. "Um herauszufinden, welche Mutationen für den Immun-Escape dieser Virusvariante verantwortlich sind, haben wir verschiedene Pseudoviren hergestellt, bei denen jeweils eine der 33 verschiedenen Mutationen rückgängig gemacht wurde, und zwar in Richtung des Ursprungsvirus BA.2", erklärt Dr. Najat Bdeir, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Virale Immunologie am HZI. In umfangreichen Zellversuchen haben die Forschenden dann untersucht, wie gut die jeweiligen Pseudoviren durch Immunzellen bekämpft werden können. Dafür nutzten sie Immunzellen "aus dem echten Leben". "Für die Studie konnten wir Blutseren einer Kohorte von 40 Personen, die im Gesundheitsbereich tätig sind, zur Verfügung stellen", sagt Prof. Georg Behrens von der Klinik für Rheumatologie und Immunologie der Medizinischen Hochschule Hannover. "Die Teilnehmenden waren mehrfach geimpft, unter anderem mit dem zu diesem Zeitpunkt aktuellen und gegen Omicron XBB.1.5 wirksamen Impfstoff."
Rückwärts bringt uns hier vorwärts!
Durch Reverse Mutational Scanning gelang es den Forschenden, die Mutationen, die für den Immun-Escape verantwortlich sind, eindeutig zu identifizieren. Aber warum ist es entscheidend, von der neuen Virusvariante auszugehen und die einzelnen Mutationen rückgängig zu machen, also das Mutational Scanning in umgekehrter Richtung anzuwenden?"Das ist wichtig, weil unsere Immunzellen so vielfältig sind. Sie können an unterschiedlichen Stellen am Virus binden, die sich teilweise auch überlappen", erklärt Cicin-Sain. "Würden wir von der Ursprungsvariante ausgehen und eine zu testende Mutation einfügen, gibt es mit großer Wahrscheinlichkeit noch genügend andere Immunzellen, die die Ursprungsvariante des Virus trotzdem noch erkennen und ausschalten können. Der tatsächliche Beitrag, den die Mutation zum Immun-Escape leistet, kann auf diese Weise nicht hinreichend detektiert werden. Wir müssen also von der neuen Variante ausgehen und uns von dort aus rückwärts vorarbeiten – rückwärts bringt uns hier vorwärts!"Die Forschenden hoffen, dass ihr neues Verfahren auch die künftige Impfstoffentwicklung vorwärtsbringen und beschleunigen kann. Mit Reverse Mutational Scanning könnten in Zukunft auch andere Viren und ihre Varianten auf Immun-Escape verantwortliche Mutationen hin untersucht werden. "Denkbar wäre auch, mit dieser neuen Methode Machine-Learning-Modelle zu trainieren, um dann KI-Modelle zu entwickeln, mit denen vorhergesagt werden kann, welche potenziellen Mutationen eines Virus zu Immun-Escape führen könnten", sagt Cicin-Sain. "Wenn auf der Basis schon vorab angepasste Impfstoffe hergestellt werden könnten, wären wir auch mal schneller als das Virus!"
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https://www.helmholtz-hzi.de/media-center/newsroom/news-detailseite/schneller-auf-neue-virusvarianten-reagieren/
Quelle: Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (01/2025)
Publikation:
Najat Bdeir, Tatjana Lüddecke, Henrike Maaß, Stefan Schmelz, Ulfert Rand, Henning Jacobsen, Kristin Metzdorf, Upasana Kulkarni, Anne Cossmann, Metodi V. Stankov, Markus Hoffmann, Stefan Pöhlmann, Wulf Blankenfeldt, Alexandra Dopfer-Jablonka, Georg M. N. Behrens & Luka Čičin-Šain: Reverse mutational scanning of SARS-CoV-2spike BA.2.86 identifies epitopescontributing to immune escape frompolyclonal sera. Nature Communications (2025). https://doi.org/10.1038/s41467-025-55871-5