Protein für Protein den Geheimnissen der Rückenmarksregeneration auf der Spur
Seit langem versuchen Wissenschaftler*innen zu verstehen, warum bestimmte Tiere wie der Zebrafisch in der Lage sind, nach Rückenmarksverletzungen verloren gegangene motorische Funktionen wieder zu erlangen. Beim Menschen sind solche Verletzungen irreparabel und führen zu dauerhaften Funktionsverlusten wie beispielsweise Lähmungen. Ein internationales Team um Daniel Wehner vom Max-Planck-Institut für die Physik des Lichts und des Max-Planck-Zentrums für Physik und Medizin in Erlangen konnte zeigen, dass eine Gruppe von bisher wenig untersuchten Proteinen die Regeneration des zentralen Nervensystems hemmen, indem sie die strukturellen und mechanischen Eigenschaften des Wundgewebes verändern.
Im Säugetier, so auch beim Menschen, bildet sich nach Verletzungen
des Rückenmarks im Rahmen des Heilungsprozesses Narbengewebe. Bei
Säugetieren hat dies jedoch einen gravierenden Nachteil: Das
Narbengewebe kann nicht von nachwachsenden Nerven durchzogen werde. In
Folge dessen können durchtrennte Nerven nicht regenerieren. Im Fall
einer Rückenmarksverletzung kommt es so zu bleibenden Lähmungen. Bereits
in vorangegangenen Arbeiten konnte Daniel Wehner zeigen, dass
Zebrafische nach Rückenmarksverletzung ebenfalls ein narben-ähnliches
Wundgewebe bilden. Dennoch sind Zebrafische fähig, selbst nach schweren
Rückenmarksverletzungen Nerven zu regenerieren und motorische Funktionen
wiederherzustellen. Warum sie das können, ist bisher nur unzureichend
verstanden. Das wollen Daniel Wehner und sein Team am
Max-Planck-Institut für die Physik des Lichts (MPL) ändern. Daniel
Wehner forscht am MPL an Zebrafischen. Zebrabärblinge, wie die kleinen,
etwa zwei bis drei Zentimeter langen Fische eigentlich heißen, sind
genügsam und anspruchslos. Die Zebrafische haben als Wirbeltier eine
hohe genetische Ähnlichkeit zum Menschen: Über 80 Prozent der bislang
bekannten Gene, die beim Menschen Krankheiten auslösen können, gibt es
auch im Fisch. Zudem sind Zebrafischlarven transparent, wodurch die
Gewebebildung mit modernsten bildgebenden Verfahren, die zum Teil am MPL
entwickelt werden, im lebenden Tier untersucht werden können.
In
vorausgegangenen wissenschaftlichen Arbeiten haben die Forschungsgruppe
um Daniel Wehner sowie Wissenschaftler*innen der Abteilung Biologische Optomechanik
von Jochen Guck, Direktor am Institut in Erlangen, bereits gezeigt,
dass es Unterschiede zwischen der biochemischen Zusammensetzung und der
Gewebemechanik des Narbengewebes im Säugetier und des Wundgewebes im
Zebrafisch geben "muss". So ist im Zebrafisch Wundgewebe im Rückenmark
steifer als gesundes Gewebe, im Säugetier hingegen ist beim Narbengewebe
das Gegenteil der Fall. Außerdem fanden die Wissenschaftler*innen
heraus, dass im Zebrafisch Nervenfasern nicht nur durch das Wundgewebe
hindurchwachsen können, sondern ihr Wachstum durch dieses sogar
gefördert wird. In einer neuen Publikation, die im Fachjournal Nature
Communications veröffentlicht wurde, konnte das Team nun ein weiteres
Puzzlestück zum Verständnis des Unterschieds zwischen der Wundheilung
und damit verbundenen Fähigkeit der Rückenmarksregeneration bei
Säugetieren und Zebrafischen identifizieren.
In der aktuellen
Studie haben Wehner und seine Kolleg*innen das Wundgewebe von Ratten mit
dem von Zebrafischen verglichen um dadurch neue Bestandteilen zu
finden, die die Nervenregeneration bei Säugetieren stören könnten. "Wir
wollten herausfinden, ob es hemmende Proteine im Narbengewebe von Ratten
gibt, die im Zebrafisch nicht auftreten.“ erklärte Julia Kolb,
Erstautorin der Publikation und Doktorandin in der Gruppe von Daniel
Wehner. In einer interdisziplinären Zusammenarbeit der
MPL-Forschungsgruppen von Wehner, Kanwarpal Singh und der Abteilung von
Direktor Jochen Guck konnten die Wissenschaftler*innen Proteine, die zur
Familie der kleinen leucinreichen Proteoglykane (SLRPs) gehören,
identifizieren, die in großen Mengen im Narbengewebe von Ratten, Mäusen
und Menschen vorkommen. Im Wundgewebe nach Rückenmarksverletzung im
Zebrafisch waren sie jedoch kaum zu detektieren.
Daraufhin fügte
das Team SLRP-Proteine mithilfe von modernster Genetik dem Wundgewebe
von Zebrafischen hinzu. Das Ergebnis war eindeutig: Die
Regenerationsfähigkeit der manipulierten Fische nahm signifikant ab und
die mechanischen Eigenschaften des Wundgewebes änderten sich hin zu
einem Zustand, der dem Narbengewebe von Säugetieren ähnelt. Daniel
Wehner: „Dieses Ergebnis ist nicht nur enorm spannend und bietet eine
Erklärung für die unterschiedliche Regenerationskapazität zwischen
Mensch und Zebrafisch, sondern eröffnet uns auch die Möglichkeit,
schrittweise die Entwicklung von Narbengewebe im Säugetier besser zu
verstehen.“ Viele Faktoren, die im Säugetier, so auch im Menschen,
Nervenregeneration hemmen, sind beim Zebrabärbling nicht vorhanden.
Solche Bestandteile, wie die von der MPL-Gruppe untersuchten SLRPs,
können isoliert werden und einzeln im Fisch auf ihre Wirkungsweise hin
getestet werden. Wehner blickt nach vorne: „Mit diesem Verständnis
hoffen wir in Zukunft neue Therapieansätze für Rückenmarksverletzungen
im Menschen entwickeln zu können.“
Die Originalpublikation entstand als Kooperation zwischen den folgenden Institutionen: Max-Planck-Institut
für die Physik des Lichts; Max-Planck-Zentrum für Physik und Medizin;
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Universitätsklinikum
Erlangen; Technische Universität Dresden; Max-Planck-Institut für
Biochemie; Biomedical Research Foundation Academy of Athens; University
of Ioannina; VIB-Neuroelectronics Research Flanders; KU Leuven
Publikation: J
Kolb, V Tsata, N John, K Kim, C Möckel, G Rosso, V Kurbel, A Parmar, G
Sharma, K Karandasheva, S Abuhattum, O Lyraki, T Beck, P Müller, R
Schlüßler, R Frischkknecht, A Wehner, N Krombholz, B Steigenberger, D
Beis, A Tekeoka, I Blümcke, S Möllmert, K Singh, J Guck, K Kobow and D
Wehner. (2023). “Small leucine-rich proteoglycans inhibit CNS
regeneration by modifying the structural and mechanical properties of
the lesion environment”. Nat Commun 14, 6814 (2023). DOI: https://doi.org/10.1038/s41467-023-42339-7