Lehrbuchwissen auf den Kopf gestellt: 3-in-1 Mikroorganismus entdeckt |
Ein Team von Forschenden des Leibniz-Instituts DSMZ-Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH und der TU Braunschweig konnte jetzt zusammen mit der Universität Wien und der University of Wisconsin, USA, zeigen, dass in der Natur eine unglaublich hohe Biodiversität umweltrelevanter Mikroorganismen existiert. Eine Vielfalt, die das Bekannte mindestens um das 4,5-fache übersteigt. Einen Vertreter dieser neuartigen Bakterien konnten die Forschenden im Bioreaktor untersuchen und haben dabei erstaunliche multifunktionale Eigenschaften entdeckt.
Die verborgene Welt der Mikroorganismen fällt häufig außer Betracht –
obwohl viele klimarelevante Prozesse von Mikroorganismen beeinflusst
werden, oft gepaart mit einer unglaublichen Artenvielfalt innerhalb der
Gruppen der Bakterien und Archaea („Urbakterien“). Sulfat-reduzierende
Mikroorganismen setzen, zum Beispiel, ein Drittel des organischen
Kohlenstoffs in marinen Sedimenten zu Kohlendioxid um. Dabei entsteht
toxischer Schwefelwasserstoff. Positiv ist, dass letzterer rasch durch
schwefeloxidierende Mikroorganismen als Energiequelle genutzt und
unschädlich gemacht wird.
„Auch in Seen, Mooren und sogar im
menschlichen Darm spielen diese Prozesse eine große Rolle, um Natur und
Gesundheit im Gleichgewicht zu halten“, sagt Prof. Michael Pester,
Leiter der Abteilung Mikroorganismen des Leibniz-Instituts DSMZ und
Professor am Institut für Mikrobiologie der TU Braunschweig. In einer
Studie konnte der Stoffwechsel eines dieser neuartigen Mikroorganismen
näher beleuchtet werden und brachte eine bisher unerreichte
Multifunktionalität zu Tage.
Mikroorganismen stabilisieren ÖkosystemeDer
Schwefelkreislauf ist einer der wichtigsten und ältesten
biogeochemischen Kreisläufe unseres Planeten. Er ist gleichzeitig eng
mit dem Kohlenstoff- und Stickstoffkreislauf verzahnt, was seine
Bedeutung unterstreicht. Angetrieben wird er hauptsächlich durch
Sulfat-reduzierende und Schwefel-oxidierende Mikroorganismen. Auf einer
globalen Skala setzen „Sulfatreduzierer“ durch ihre Aktivitäten rund ein
Drittel an organischem Kohlenstoff um, der jährlich den Ozeanboden
erreicht. Schwefeloxidierer konsumieren im Gegenzug rund ein Viertel des
Sauerstoffs in marinen Sedimenten.
Wenn diese Ökosysteme aus dem
Gleichgewicht geraten, können die Aktivitäten dieser Mikroorganismen
rasch zur Sauerstoffzehrung und Akkumulation von toxischem
Schwefelwasserstoff führen. Dadurch bilden sich sogenannte Todeszonen,
in denen Tiere und Pflanzen nicht mehr überleben können. Dabei entsteht
nicht nur ein ökonomischer Schaden, beispielsweise für die Fischerei,
sondern auch ein gesellschaftlicher Schaden durch Zerstörung wichtiger
Naherholungsgebiete. Daher ist es wichtig zu verstehen, welche
Mikroorganismen den Schwefelkreislauf im Gleichgewicht halten und wie
sie das tun.
Die jetzt publizierten Ergebnisse zeigen, dass die
Artenvielfalt der Sulfat-reduzierenden Mikroorganismen sich über
mindestens 27 Phyla (Stämme) erstreckt. Bisher waren Vertreter aus nur
sechs Phyla bekannt. Zum Vergleich: Im Tierreich sind derzeit 40 Phyla
bekannt, wobei die Wirbeltiere nur einem Phylum, den Chordata,
angehören.
Neu entdeckte multifunktionale BakterienartEinen
Vertreter dieser neuartigen „Sulfatreduzierer“ konnten die Forschenden
dem wenig erforschten Bakterien-Phylum der Acidobakterien zuordnen und
in einem Bioreaktor untersuchen.
Mit Hilfe modernster Methoden
aus der Umweltmikrobiologie konnten sie nachweisen, dass diese Bakterien
sowohl aus der Sulfatreduktion sowie aus der Atmung mit Sauerstoff
Energie ziehen können. Diese zwei Stoffwechselwege schließen sich in
allen bisher bekannten Mikroorganismen eigentlich aus. Gleichzeitig
konnten die Forschenden belegen, dass die sulfatreduzierenden
Acidobakterien komplexe pflanzliche Kohlenhydrate wie Pektin abbauen
können – auch das ist eine Eigenschaft, die für „Sulfatreduzierer“
bisher unbekannt war. Dadurch stellten die Forschenden das
Lehrbuchwissen auf den Kopf. Sie zeigen, dass komplexe
Pflanzenbestandteile unter Sauerstoffausschluss nicht – wie bisher
gedacht – nur durch ein koordiniertes Zusammenspiel verschiedener
Mikroorganismen abgebaut werden können, sondern auch über eine Abkürzung
durch eine einzige Bakterienart.
Ebenfalls neu ist die
Erkenntnis, dass diese Bakterien dazu sowohl Sulfat als auch Sauerstoff
nutzen können. Wie sich die neuen Erkenntnisse auf das Zusammenspiel des
Kohlenstoff- und Schwefelkreislaufs auswirken und wie sie mit
klimarelevanten Prozessen verzahnt sind, untersuchen die Forschenden der
DSMZ und der TU Braunschweig derzeit.
Den Artikel finden Sie unter:
https://magazin.tu-braunschweig.de/pi-post/lehrbuchwissen-auf-den-kopf-gestellt-3-in-1-mikroorganismus-entdeckt/
Quelle: Technische Universität Braunschweig (11/2023)
Publikation: Dyksma
S, Pester M.: Oxygen respiration and polysaccharide degradation by a
sulfate-reducing acidobacterium. Nature Communications 2023;14: 6337,
https://www.nature.com/articles/s41467-023-42074-z
Diao M, Dyksma
S, Koeksoy E, Ngugi DK, Anantharaman A, Loy A. Pester M.: Global
diversity and inferred ecophysiology of microorganisms with the
potential for dissimilatory sulfate/sulfite reduction. FEMS Microbiology
Reviews 2023, DOI 10.1093/femsre/fuad058 |