"Aggressive" Bruchstücke von Molekül-Ionen zur chemischen Synthese genutzt
Massenspektrometer sind High-Tech-Maschinen, die in unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen. Als hochempfindliche Analysegeräte sind sie in Bereichen wie der medizinischen Diagnostik, der Qualitätskontrolle von Lebensmitteln oder dem Nachweis gefährlicher chemischer Substanzen unverzichtbar. Die Forschergruppe um Dr. Jonas Warneke am Wilhelm-Ostwald-Institut für Physikalische und Theoretische Chemie der Universität Leipzig arbeitet daran, Massenspektrometer so zu modifizieren, dass sie für einen ganz anderen Zweck eingesetzt werden können: die chemische Synthese neuer Moleküle.
Mit diesen „präparativen Massenspektrometern“ lassen sich
chemische Verbindungen auf neue Art erzeugen. Die Forschenden haben
damit kürzlich eine neue Verbindung aus einem geladenen
Molekülbruchstück und Stickstoff aus der Luft synthetisiert, die
vielfältige Anwendungsmöglichkeiten für den Aufbau neuer
Molekülstrukturen bietet. Ihre neuen Erkenntnisse haben sie in der
Fachzeitschrift „Angewandte Chemie“ veröffentlicht. Das von Ihnen
gestaltete Journal-Cover visualisiert Aspekte der publizierten Arbeit.
Die Wissenschaftler:innen „zerbrechen“ molekulare Ionen in einem
Massenspektrometer. Die dabei entstehenden Molekülbruchstücke, die
chemisch äußerst aggressiv sind, können dann im Gerät gezielt zu neuen
Substanzen zusammengesetzt werden. Diese Substanzen werden dann am Ende
der Maschine gesammelt und können aus dem Gerät entnommen werden, so
dass sie für weitere Forschungsarbeiten zur Verfügung stehen.
Die
Entwicklung neuer Methoden, um chemische Bindungen zu brechen und neu
zu formen, ist eine der primären Aufgaben der chemischen
Grundlagenforschung. „Wenn eine Bindung in einem geladenen Molekül
gebrochen wird, entsteht häufig ein chemisch sehr ‚aggressives‘
Bruchstück, das wir als reaktives Fragment bezeichnen. Mit etablierten
chemischen Synthesemethoden lassen sich diese Fragmente nur schwer
kontrollieren. Man kann sie sich wie ungezähmte Bestien vorstellen, die
alles an sich reißen, was sich ihnen in den Weg stellt. In einem
Massenspektrometer gibt es viele Möglichkeiten, Bindungen gezielt
aufzubrechen und Fragmente zu erzeugen“, beschreibt Dr. Warneke die
Vorgänge in Massenspektrometern. Die „Bestien“ finden dabei ihm zufolge
besondere Bedingungen vor: In Massenspektrometern herrscht ein Vakuum.
Das heißt, sie finden nichts, was sie angreifen können. Somit kommt es
nicht zu unkontrollierten chemischen Reaktionen. „Bieten wir dann ein
bestimmtes Molekül an, zum Beispiel Stickstoff, der üblicherweise
unreaktiv ist und nicht gebunden wird, gibt sich die Bestie damit
zufrieden, weil sie keine andere Wahl hat. Auf diese Weise kann man sehr
schwer zu bindende Moleküle wie Stickstoff einfach in eine neue
Substanz einbauen“, erklärt Warneke weiter.
Auf diese Weise hat
das Forscherteam bereits in der Vergangenheit reaktive Fragmente zu sehr
außergewöhnlichen Reaktionen gebracht, zum Beispiel mit Edelgasen, die
von allen chemischen Elementen am schwersten zu binden sind. „Die
grundsätzliche Strategie, chemische Bestien in Massenspektrometern zu
kontrollieren, ist nicht neu“, betont Warneke. Sie werde seit
Jahrzehnten verwendet, um die Eigenschaften reaktiver Fragmente zu
untersuchen. Allerdings konnten die so gefundenen neuen Verbindungen
nicht weiter genutzt werden. Massenspektrometer zeigen zwar an, was in
ihrem Inneren passiert, aber die neuen Substanzen entstehen nur in
winzigen Mengen und können normalerweise nicht extrahiert werden. Oft
werden sie bei der Erzeugung des Signals, das für Analysen verwendet
wird, auch einfach wieder zerstört.
Deshalb gehen Forschende aus
Experimenten mit Massenspektrometern meist mit „großem
Erkenntnisgewinn“, aber „leeren Händen“ heraus. „Sie haben die Bestie
unter Kontrolle. Es passiert genau das, was sie wollen, sie sehen das
neue Molekül, welches faszinierende Eigenschaften haben könnte, und dann
ist es weg“, beschreibt Warneke chemische Experimente in herkömmlichen
Massenspektrometern. Die neue Publikation könnte diese Sicht auf
chemische Reaktionen in Massenspektrometern grundlegend verändern. Das
Forscherteam hat aus einem aggressiven Fragment und unreaktivem
Stickstoff eine neue Substanz hergestellt und diese mit präparativen
Massenspektrometern gesammelt, sodass man sie mit dem bloßen Auge sehen,
anfassen und weiter damit experimentieren kann.
Die mit dieser
Methode erzeugte Substanzmenge wird noch für längere Zeit auf
Anwendungen im Bereich der Dünnschichttechnologie beschränkt bleiben.
Für diese Anwendungen, etwa bei der Herstellung von Mikrochips,
Solarzellen oder biologisch aktiven Beschichtungen, könnten sich jedoch
schnell ganz neue Möglichkeiten durch präparative Massenspektrometrie
eröffnen. Mit den publizierten Ergebnissen hat die
Nachwuchsforschergruppe einen wichtigen Meilenstein in ihrem Projekt
erreicht, das seit 2020 durch den Freigeist Fellowship der
Volkswagenstiftung gefördert wird.