Zeitaufgelöste Kristallographie für die breite Masse
Wissenschaftler*innen aus vier Forschungseinrichtungen der Science City Hamburg Bahrenfeld haben sich zusammengetan und einen bahnbrechenden Versuchsaufbau entwickelt. Ihr neuer Spitrobot erlaubt eine erheblich vereinfachte Beobachtung von Veränderungen in Proteinen während diese ihre Funktionen ausüben. Damit wird die zeitaufgelöste Kristallographie auch für nicht spezialisierte Forschergruppen zugänglich, denn die Proben können nun in Standardlaboren vorbereitet und an anderer Stelle mit automatisierten, etablierten Hochdurchsatzmethoden bearbeitet werden. Das Gerät wird die Grundlagenforschung im Gesundheitsbereich beschleunigen.
Für die Entwicklung künftiger Medikamente und neuer
biotechnologischer Anwendungen ist es von grundlegender Bedeutung, dass
Wissenschaftler*innen Veränderungen in Proteinen verstehen, während
diese stattfinden. Bislang können zwar der Anfang und das Ende der
Reaktion betrachtet werden, meist fehlen jedoch die vielen
Zwischenschritte. Der einfachste Weg, diese Schritte zu visualisieren,
besteht darin, „Schnappschüsse“ des Proteins während der gesamten
Reaktion aufzunehmen. Viele solcher Schnappschüsse zusammengenommen
ergeben dann einen 3D-„Stop-Motion-Film“, der die Veränderungen der
Proteinstruktur zeitaufgelöst aus allen Blickwinkeln zeigt.
Momentan
erfordern solche Experimente den direkten Zugang zu
Teilchenbeschleunigern (Synchrotrons und XFELs) sowie komplexe
Versuchsaufbauten, die vielen Forschenden nicht zur Verfügung stehen.
Deshalb haben Wissenschaftler*innen der Universität Hamburg (UHH), des
Max-Planck-Instituts für Struktur und Dynamik der Materie (MPSD) und des
Europäischen Laboratoriums für Molekularbiologie (EMBL) in Hamburg
sowie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) eine andere und
weitaus zugänglichere Alternative entwickelt – den Spitrobot.
Der
Roboter vereinfacht den gesamten Probenvorbereitungsprozess dramatisch,
von der anfänglichen Fixierung der Proteinkristalle und dem Starten der
Reaktion bis hin zur präzisen Vitrifizierung (d. h. die rasche
Abkühlung in einen glasartigen Zustand) der Proteine in verschiedenen
Stadien ihrer Umwandlung. Die Reaktionen werden durch einfaches
Aufsprühen der Substratlösung auf das Target eingeleitet – eine
Technologie, die zuvor vom selben Team entwickelt wurde. Durch die
Vitrifizierung der Proben entkoppelt der Spitrobot die
Probenvorbereitung von der Datenerfassung. Die Verwendung von
Industriestandards gewährleistet den bequemen Versand der Proben und
ihre Kompatibilität mit den an Synchrotrons und anderen Einrichtungen
üblichen Hochdurchsatzroutinen. So kann das Experiment in Standardlabors
ohne unmittelbaren Zugang zu Lichtquellen durchgeführt werden, was für
die meisten Forschenden in der Strukturbiologie einen bedeutenden
Vorteil darstellt.
„Der Spitrobot wird die Erforschung
enzymatischer Mechanismen erheblich beschleunigen“, so Pedram Mehrabi,
der Leiter der Emmy Noether-Forschungsgruppe (UHH) und Erstautor des
Artikels in Nature Communications. „Er ermöglicht es
nicht-spezialisierten Gruppen, Experimente durchzuführen, die bisher nur
von Experten durchgeführt werden konnten. Dies sollte zu einer viel
breiteren Anwendung eines wirklich schwierigen Experiments führen.“
Der
Spitrobot hat seine technologischen Ursprünge am MPSD, wo Mehrabi und
der Letztautor Eike C. Schulz mit der von Friedjof Tellkamp geleiteten
Scientific Support Unit des Instituts zusammenarbeiteten. Schulz und
Mehrabi setzten ihre Arbeit am UKE und an der UHH fort, um das Gerät zu
testen und seine Anwendbarkeit auf biotechnologische und
krankheitsbezogene Probleme zu demonstrieren. Unterstützt wurden sie
dabei von Kollegen des EMBL Hamburg, die zeigten, dass Veränderungen im
Protein beobachtet werden konnten, während katalytische Reaktionen
abliefen.
„Wir haben den Spitrobot mit Blick auf das typische
strukturbiologische Labor entwickelt“, erklärt Schulz, der inzwischen
eine eigene BMBF-geförderte Nachwuchsgruppe zur Infektionsforschung am
UKE leitet. „Deshalb haben wir eine vielseitige, robuste und einfache
Lösung angestrebt, die es ermöglicht, sowohl mit großen als auch mit
kleinen Kristallen zu arbeiten und die einfachste Art der
Reaktionsauslösung mit der Fähigkeit kombiniert, die Zeitskalen der
meisten Enzyme abzudecken. Damit kann nun ein breiteres Spektrum an
Fragestellungen von der Biotechnologie bis hin zur medizinischen
Grundlagenforschung von viel mehr Forschungsgruppen bearbeitet werden.“
Publikation: Millisecond cryo-trapping by the spitrobot crystal plunger simplifies time-resolved crystallography P.
Mehrabi, S. Sung, D. von Stetten, A. Prester, C. E. Hatton, S.
Kleine-Döpke, A. Berkes, G. Gore, J.-P. Leimkohl, H. Schikora, M.
Kollewe, H. Rohde, M. Wilmanns, F. Tellkamp, E.-C. Schulz Nature Communications 14 (1), 2365 (2023) https://pure.mpg.de/pubman/faces/ViewItemFullPage.jsp?itemId=item_3431321