Evolutionärer Kompromiss: Balance zwischen genetischem Krankheitsrisiko und Infektionsschutz
Kieler Evolutionsforschende beschreiben einen neuartigen Weg, mit dem sich anhand bekannter Krankheitsgene künftig bislang unbekannte Krankheitserreger identifizieren lassen. Bestimmte Gene können in den Individuen einer Art in verschiedenen, funktionell voneinander abweichenden Varianten vorliegen. Führen sie zu deutlichen Unterschieden zum Beispiel in der äußeren Erscheinung oder der Anfälligkeit für Krankheiten, spricht man in der Biologie von einem sogenannten Polymorphismus. Ein typisches Beispiel dafür besteht in einer Reihe von Genen, deren Varianten für die Ausprägung der verschiedenen Blutgruppen verantwortlich sind. Interessanterweise können diese polymorphen Gene zugleich blutgruppen- und krankheitsrelevant sein.
Ein Forschungsteam von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU)
und dem Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie (MPI-EB) um
Professor John Baines hat nun am Beispiel von Mäusen ein solches
polymorphes Gen untersucht, genannt B4galnt2, das sich beim
individuellen Tier in den Blutgefäßen und beziehungsweise oder den
Darmzellen auswirken kann.
In ihrer neuen Studie konnten die
Forschenden aus der Sektion Evolutionäre Medizin an CAU und MPI-EB für
dieses Gen zeigen, dass es je nach Variante neben einer
Blutgerinnungsstörung auch eine bessere Immunität gegenüber
Bakterieninfektionen bewirken kann. Den Forschenden, die im
CAU-Sonderforschungsbereich (SFB) 1182 „Entstehen und Funktionieren von
Metaorganismen“ und im Exzellenzcluster „Precision Medicine in Chronic
Inflammation“ (PMI) aktiv sind, gelang es anhand der Identifizierung
eines bislang unbekannten Bakteriums aus der Gattung Morganella, die
Beteiligung einer individuellen Variante von B4galnt2 an der Abwehr von
Krankheitserregern zu demonstrieren. Diese Gruppe von Mikroorganismen
kann bei Menschen besonders in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen
problematische Infektionen verursachen. In einer sogenannten
pathometagenomischen Analyse zeigten die Forschenden, dass bei Mäusen
mit dem die Blutgefäße betreffenden B4galnt2-Genotypen das Vorkommen
dieses entzündungsrelevanten Bakteriums stark eingeschränkt ist. Damit
gelang ihnen exemplarisch die Aufklärung eines evolutionären
Kompromisses zwischen genetischem Krankheitsrisiko und dem evolutionären
Vorteil der Pathogenresistenz, den Mäuse mit der dauerhaften
Beibehaltung eines Polymorphismus bei diesem Gen eingehen. Ihre
Ergebnisse veröffentlichten sie kürzlich in der Fachzeitschrift Gut
Microbes.
Ausgleichende Selektion balanciert evolutionäre Vor- und Nachteile aus
Im
Laufe der Evolution sorgt der von Infektionskrankheiten ausgeübte
Selektionsdruck dafür, dass bestimmte für die Immunabwehr wichtige Gene
bevorzugt werden und deren entsprechende Variationen daher beibehalten
werden. Mit der Beibehaltung solcher Gene gehen Lebewesen jedoch häufig
auch sogenannte evolutionäre Kompromisse ein: Bei Mäusen ist bekannt,
dass sie alternative Formen, sogenannte Allele, des blutgruppenbezogenen
B4galnt2-Gens seit fast drei Millionen Jahren aufweisen, obwohl sie
eine dem menschlichen Von-Willebrand-Syndrom ähnliche, veränderte
Ausprägung der Blutgerinnung verursachen. Diese sorgt für eine
verlängerte Blutung nach Verletzungen. „Mit der Beibehaltung einer
solchen genetischen Variante muss auch ein starker Selektionsvorteil in
einem anderen Zusammenhang verbunden sein, der aber bislang noch völlig
unbekannt war“, erklärt der Evolutionsbiologe Baines. „Jüngste
Fortschritte im wissenschaftlichen Verständnis des Blutgerinnungssystems
deuten nun darauf hin, dass die genetische Variation auch an der
angeborenen Immunität und der Abwehr von Pathogenen beteiligt sein kann,
so dass wir einen möglichen Vorteil des B4galnt2-Gens in diesem Bereich
suchten“, so Baines weiter.
Pathometagenomische Analyse belegt Zusammenhang von genetischer Variation und Infektionsschutz
Um
eine Beteiligung der B4galnt2-Variation an einer möglichen Immunität
gegenüber Krankheitserregern zu untersuchen, wählte das Kieler
Forschungsteam einen neuen, sogenannten pathometagenomischen Ansatz.
Darin untersuchten die Forschenden zunächst das Darmgewebe der Tiere auf
das Vorhandensein von Entzündungen. Anschließend identifizierten die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler per Genomsequenzierung die im
Darm der Tiere vorhandenen Mikroorganismen, um Zusammenhänge von
Mikrobiomzusammensetzung und Entzündungsanzeichen aufzuspüren. „Die
Gesamtzusammensetzung der Mikroben scheint dabei zunächst keine
signifikante Rolle zu spielen. Allerdings zeigte sich, dass einzelne
Bakterienarten beim Vorliegen von Entzündungen und speziellen Genotypen
von B4galnt2 überproportional aktiv sind“, fasst Baines zusammen.
Diese
Beobachtung konnten die Forschenden auf eine einzelne, bis dahin
unbekannte Unterart aus der Bakterien-Gattung Morganella eingrenzen: Bei
Tieren mit dem für die Blutgefäße relevanten Allel und dem damit
verbundenen Risiko für die Blutgerinnungsstörung zeigten sich weniger
Entzündungsanzeichen, das Bakterium kommt bei ihnen fast gar nicht vor.
Bei Mäusen mit der Expression von B4galnt2 im Darm ist es dagegen klar
nachzuweisen. Das Vorliegen von Entzündungen deutet hier auf die
Pathogenität des Bakteriums hin. „Während diese Tiere kein Risiko für
eine gestörte Blutgerinnung tragen, kann die Expression von B4galnt2 in
ihrer Darmschleimhaut verschiedene Krankheitserreger begünstigen. Im
Fall unserer Analyse sind es Morganella-Bakterien, die dort Entzündungen
hervorrufen“, so Baines.
Neuartiger Weg zur Identifizierung noch unbekannter Krankheitserreger
Anschließend
kooperierten die Forschenden mit der Arbeitsgruppe von Guntram Grassl,
Professor für medizinische Mikrobiomforschung an der Medizinischen
Hochschule Hannover. In Infektionsexperimenten mit Labormäusen, die sich
nur durch die Allele des B4galnt2-Gens unterschieden, validierten sie
die an Wildtieren gewonnenen Erkenntnisse: Wenn diese Tiere mit dem
Bakterium inokuliert wurden, zeigten sie dieselben Krankheitsanzeichen
wie die Wildtiere. „Damit gelang der experimentelle Nachweis, dass das
B4galnt2-Gen in der Natur eine bedeutende Rolle bei der Empfindlichkeit
gegenüber bakteriellen Infektionen spielt. So konnten wir belegen, dass
unser neuartiger pathometagenomischer Ansatz prinzipiell dazu geeignet
ist, noch unbekannte Krankheitserreger in wildlebenden Tieren zu
identifizieren und damit mögliche Gefahren solcher zoonotischer Erreger
für den Menschen zu überwachen“, betont Grassl.
Mit der nun
vorgelegten Arbeit legte das Kieler Forschungsteam zudem eine weitere
Bestätigung für eine seit Jahrzehnten bestehende Hypothese zum
evolutionären Ursprung der Blutgruppensysteme im Allgemeinen vor: „Ein
bedeutender Pionier der Evolutionsbiologie, der britische Genetiker
J.B.S. Haldane, sah schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts voraus, dass
die Blutgruppen und die Resistenz gegenüber Krankheitserregern
möglicherweise zusammenhängen. Mit der Erforschung der
blutgruppenrelevanten Gene, die ein besonders häufiges Ziel der
natürlichen Selektion darstellen, wurden in jüngerer Zeit zahlreiche
Beispiele dafür beschrieben“, sagt Baines. „Allerdings werden Art und
Umfang der damit verknüpften evolutionären Kompromisse nur selten bis
ins Detail untersucht. Mit Hilfe unserer pathometagenomischen Analyse
ist es uns nun gelungen, einen Zusammenhang zwischen der Resistenz gegen
Krankheitserreger und einem blutgruppenbezogenen Gen aufzuzeigen und so
Haldanes Hypothese erneut experimentell zu untermauern“, so Baines
weiter.
Quelle: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (01/2023)
Publikation: Marie
Vallier, Abdulhadi Suwandi, Katrin Ehrhardt, Meriem Belheouane, David
Berry, Aleksa ?epi?, Alibek Galeev, Jill M. Johnsen, Guntram A. Grassl
and John F. Baines (2023): Pathometagenomics reveals susceptibility to
intestinal infection by Morganella to be mediated by the blood
group-related B4galnt2 gene in wild mice. Gut Microbes https://doi.org/10.1080/19490976.2022.2164448