Suche nach Krankheitsursachen in der dunklen Materie unseres Erbguts
Die Suche nach Krankheitsursachen in der dunklen Materie unseres Erbguts. Forschende haben die Chromosomen von Patienten analysiert, die extrem viele Anomalien in ihrem Genom aufweisen. Diese Veränderungen können die Aktivität nahe gelegener Gene verändern und so möglicherweise Krankheiten verursachen. „Wir beginnen gerade erst zu verstehen, wie durch Mutationen im nicht-kodierenden Bereich der DNA Erkrankungen entstehen“, sagt der Genetiker Stefan Mundlos, Leiter der Forschungsgruppe Entwicklung & Krankheit am Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik (MPIMG) und Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Humangenetik an der Charité - Universitätsmedizin Berlin. „Diese Studie hilft uns zu verstehen, wie wichtig nicht-kodierende DNA sein kann und wie genomische Umlagerungen Krankheiten verursachen können.“
Vor mehr als 20 Jahren behandelte Mundlos eine Patientin mit einer
leichten geistigen Behinderung. Verglichen mit heute waren die
Techniken, mit denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen
Blick in das menschliche Genom werfen konnten, zwar noch rudimentär.
Aber selbst mit der altmodischen Karyotyp-Analyse konnte Mundlos
erkennen, dass einige der Chromosomen der Patientin eine höchst
ungewöhnliche Anzahl von Anomalien aufwiesen – und doch lebte sie. Eine
Probe mit Zellen der Frau wurde zu Forschungszwecken in flüssigem
Stickstoff tiefgefroren.
Dieser ungewöhnliche Fall blieb Mundlos
lange in Erinnerung. 2019 beschlossen Mundlos sowie die Postdocs Robert
Schöpflin und Uirá Souto Melo am MPIMG, das Erbgut mit neuen genomischen
Werkzeugen genauer unter die Lupe zu nehmen.
Das Wissen über die
Zusammenhänge zwischen Genen und Krankheiten war zwischenzeitlich
gewachsen. Noch zehn Jahre zuvor glaubte man beispielsweise, dass nur
Mutationen in Protein-kodierenden Genen Krankheiten verursachen. Solche
kodierenden Gene machen aber nur zwei Prozent des menschlichen Genoms
aus, weshalb die restlichen 98 Prozent als „Junk-DNA“ bezeichnet wurden.
Mit
den Fortschritten in der Sequenzierungstechnologie wurde jedoch
zunehmend klar, dass auch nicht-kodierende Anteile des Erbgutes von
entscheidender Bedeutung sind. “Bestimmte Abschnitte tragen zur
Steuerung der Genexpression bei und Mutationen in diesen Regionen können
zu Krankheiten führen”, sagt Melo. Angesichts der Tatsache, wie wenig
über die nicht-kodierende DNA bekannt ist, wird sie mitunter auch als
„dunkle Materie“ der DNA bezeichnet.
“Bei bestimmten Krankheiten
könnte die Funktionen dieser „dunklen Materie“ gestört sein”, sagt Melo.
Weil keine offensichtlichen Fehler in den kodierenden Regionen zu
erkennen seien, erhielten nur 40 Prozent der Betroffenen mit genetischen
Erkrankungen jemals eine Diagnose. „Wir sind überzeugt, dass ein großer
Teil dieser Mutationen in den nicht-kodierenden Regionen liegt“, sagt
der Forscher. „Es gibt keine andere Erklärung dafür, außer wir haben
etwas sehr Grundlegendes in der Biologie übersehen.“
Im Jahr 2011
wurde erstmals bekannt, dass das Erbgut manchmal in einem
katastrophalen Ereignis – einer Chromothripsis – in Stücke zerbrechen
kann. Die Reparaturmechanismen der Zelle versuchen in so einem Fall, die
Fragmente wieder zusammenzusetzen. Doch wenn es zu viele Bruchstücke
gibt, weicht das Ergebnis mitunter beträchtlich vom Original ab. Fehlt
nachher zu viel Wichtiges, stirbt die Zelle ab. Passiert der Pfusch
jedoch in einer nicht-kodierenden Region, kann der Organismus überleben.
Manchmal geht es den Betroffenen trotz der DNA-Schäden gut, in anderen
Fällen entwickeln sie genetisch bedingte Krankheiten.
Betroffene
mit extremen Chromosomenumlagerungen in allen Zellen sind selten. Laut
Melo gibt es weltweit nur wenige Fälle, die eine Chromothripsis
aufweisen und überlebt haben. Mundlos' Patientin vor zwanzig Jahren war
eine davon und ihre DNA wurde so zu einer wertvollen Ressource für das
Team, das die Geheimnisse der nicht-kodierenden DNA erforschen wollte.
Das
Team überlegte, wie sich das ungewöhnliche Genom analysieren lassen
könnte. Die immensen technischen Fortschritte in der Genomsequenzierung
kamen ihnen dabei zuteil, genauso wie neue Erkenntnisse darüber, wie der
fast zwei Meter lange Erbgutfaden in den nur einen zwanzigstel
Millimeter messenden Zellkern passt.
Demnach werden Abschnitte
der DNA jeweils präzise zu dreidimensionalen Strukturen gefaltet, den
topologisch assoziierenden Domänen (TADs). Diese Komplexe aus Genen und
regulatorischen Elementen ordnen sich zu dreidimensionalen,
charakteristischen Formen an, wie es ihre Nukleotidsequenz vorgibt.
Um
die 3D-Strukturen dieser TADs zu erfassen, nutzten Melo und seine
Kolleginnen und Kollegen eine Methode namens „Hi-C“ und
Genomsequenzierung. Anschließend konnten sie die Struktur der DNA der
Betroffenen mit hoher Auflösung rekonstruieren. „Wir waren überrascht,
mit diesen Methoden so viele bisher unbekannte Umlagerungen entdecken zu
können“, sagt Melo. „Die betroffenen Personen hatten durchschnittlich
28 verschiedene genomische Umlagerungen.“
Anschließend nahm das
Forschungsteam Kontakt zu anderen Genetikerinnen und Genetikern auf, die
möglicherweise Betroffene mit Chromothripsis kannten. Das Team erhielt
schließlich Proben von elf Patientinnen und Patienten. Zehn von ihnen
hatten eine geistige Behinderung, während eine Person keine auffällige
Störung hatte. Einige waren bereits verstorben, hatten aber zuvor
eingewilligt, dass ihre Zellen für Forschungszwecke verwendet werden.
Das
Forschungsteam fand heraus, dass sich die meisten der Anomalien in den
Chromosomen in den inaktiven Teilen des Genoms befanden. Dies sei
möglicherweise der Grund, weshalb diese Personen überlebt hätten, sagt
Melo. Wären die Mutationen in einer aktiven Region aufgetreten, wären
sie wahrscheinlich tödlich gewesen, oder die Betroffenen hätten an noch
schwerer wiegenden Störungen gelitten.
Aber wenn die Abweichungen
in inaktiven Regionen lagen, warum hatten dann viele der Patienten eine
geistige Behinderung? Wie das Team aus Forscherinnen und Forschern
herausfand, hatte sich die Form der TADs verändert, was sich wiederum
auf die Aktivität von Genen in der Nähe auswirken kann. Je näher ein Gen
an der Chromosomenbruchstelle lag, desto größer war die
Wahrscheinlichkeit, dass es tatsächlich betroffen war.
„Diese
Studie ist beispielhaft für das Potenzial neuer
Sequenzierungstechnologien in Kombination mit fortschrittlichen
Computeralgorithmen, um seltene genetische Krankheiten und die
Organisation unseres Erbgutes im Zellkern zu verstehen“, sagt Martin
Vingron, Direktor am MPIMG, der die bioinformatischen Analysen für die
Studie leitete. Bei der Chromothripsis gebe es so viele Brüche in den
Chromosomen, dass es schwierig zu sagen sei, welcher davon zu der
beobachteten Störung geführt hat, sagt Vingron. Aber dank verbesserter
Methoden werde bald mehr Licht in die dunklen Regionen unserer Gene
gebracht: „Die Techniken, mit denen wir jeden Teil der DNA sequenzieren
können, haben sich erst in den letzten zwei, drei Jahren entwickelt. Im
Moment beschreiten wir jeden Tag Neuland.“
Quelle: Max-Planck-Institut für molekulare Genetik (01/2023)
Publikation: Schöpflin
R, Melo US, Moeinzadeh H, Heller D, Laupert V, Hertzberg J, Holtgrewe
M, Alavi N, Klever MK, Jungnitsch J, Comak E, Türkmen S, Horn D,
Duffourd Y, Faivre L, Callier P, Sanlaville D, Zuffardi O, Tenconi R,
Kurtas NE, Giglio S, Prager B, Latos-Bielenska A, Vogel I, Bugge M,
Tommerup N, Spielmann M, Vitobello A, Kalscheuer VM, Vingron M, Mundlos
S. Integration of Hi-C with short and long-read genome sequencing
reveals the structure of germline rearranged genomes. Nat Commun. 2022
Oct 29;13(1):6470. http://dx.doi.org/10.1038/s41467-022-34053-7.