Neutronen machen Kristallstruktur von Kohlensäure sichtbar
Die Existenz von Kohlensäure war in der Wissenschaft lange umstritten: theoretisch existent, praktisch kaum nachweisbar, denn an der Erdoberfläche zerfällt die Verbindung. Ein deutsch-chinesisches Team hat jetzt an der Forschungs-Neutronenquelle FRM II der Technischen Universität München (TUM) erstmals die kristalline Struktur von Kohlensäuremolekülen sichtbar gemacht.
Jeder glaubt sie zu kennen, und doch ist sie eines der großen
Geheimnisse der Chemie: Kohlensäure. Niemand hatte bisher je die
Molekülstruktur der Verbindung aus Wasserstoff, Sauerstoff und
Kohlenstoff mit der chemischen Summenformel H2CO3 gesehen. Die
Verbindung zerfällt – zumindest an der Erdoberfläche – schnell in Wasser
und Kohlendioxid beziehungsweise reagiert zu Hydrogenkarbonat, einen
Stoff, der ebenso zerfällt und Sprudel oder Champagner das typische
Pricken verleiht. „Weil man nicht glaubt, was man nicht sieht, behaupten
die Chemielehrbücher in aller Regel, dass es Kohlensäure nicht gibt,
oder zumindest, dass sie nicht zweifelsfrei isoliert wurde “, erklärt
Prof. Richard Dronskowski, Direktor des Instituts für Anorganische
Chemie der RWTH Aachen.
Zusammen mit seinem Team an der RWTH und
dem chinesischen Hoffmann Institute for Advanced Materials (HIAM) in
Shenzhen ist es ihm jetzt erstmals gelungen, kristalline Kohlensäure
herzustellen und ihre Struktur zu analysieren. Die Lehrbücher müssen
also umgeschrieben werden.
Acht Jahre haben die Forscher für den
Nachweis benötigt. „Unsere computergestützten Berechnungen hatten
zunächst ergeben, dass man zur Handhabung tiefe Temperaturen von minus
100 Grad Celsius braucht und dass dann ein Druck von etwa 20.000
Atmosphären notwendig ist, damit sich aus Wasser und Kohlendioxid
Kohlensäure-Kristalle bilden. Daher mussten wir eine Apparatur
konzipieren und bauen, die extremen Bedingungen standhält“, berichtet
Dronskowski. Die Wände der Messzelle, die nicht größer ist als eine
Parfümflasche, bestehen aus einer eigens gefertigten Metalllegierung,
ein Diamantfenster erlaubt einen Blick ins Innere. In dieser Zelle wurde
ein Gemenge aus Wassereis und festem Kohlendioxid (sogenanntes
Trockeneis) mit Hilfe einer Presse unter Druck gesetzt. Tatsächlich
bildeten sich unter diesen extremen Bedingungen Kristalle.
Mit Neutronen besser sehen
Um
mehr über deren Zusammensetzung und Struktur zu erfahren, reiste das
Team mitsamt der Messzelle nach München an den FRM II: „Wir brauchten
für die Untersuchung unbedingt Neutronenstrahlen“, erinnert sich
Dronskowski. „Röntgenstrahlen wechselwirken mit den Elektronen der
Atome. Neutronen hingegen interagieren mit den Kernen, daher kann man
mit ihnen auch sehr leichte Atome, beispielsweise Wasserstoff, der nur
ein Elektron enthält, sichtbar machen – das war für uns essenziell, weil
unsere Kristalle Wasserstoff enthalten. Wir mussten wissen, wo die
Wasserstoffatome im Moleküle liegen.“
Um mit Hilfe von
Neutronenstrahlen die atomare Struktur eines Kristalls zu untersuchen,
benötigt man extrem empfindliche Messgeräte, wie beispielsweise das
STRESS-SPEC Diffraktometer. Es wurde entwickelt, um Verschiebungen im
Kristallgitter sichtbar zu machen, die durch Spannungen verursacht
wurden. Für die Messung wird aus dem Neutronenstrahl, der aus dem
Forschungsreaktor FRM II kommt, mittels eines Monochromators eine
bestimmte Wellenlänge selektiert. Diese monochromatische Strahlung lässt
sich dann durch spezielle Blenden so ausrichten, dass man nur auf die
Probe im Inneren der Messzelle fokussiert, erklärt TUM-Mitarbeiter und
Gruppenleiter am FRM II, Dr. Michael Hofmann: „Auf diese Weise können
wir sehr kleine Probenvolumina in einer sehr hohen Auflösung untersuchen
– das war für die Analyse der Probe aus Aachen, die ja nur einige
Kubikmillimeter groß war, ideal.“ Trifft der monochromatisierte
Neutronenstrahl auf einen Kristall, wird er durch die Wechselwirkung mit
den Atomen abgelenkt. Auf diese Weise entsteht ein Beugungsmuster, aus
dem sich dann – zumindest theoretisch – die Struktur des Kristallgitters
ableiten lässt.
Das Struktur-Puzzle
„Praktisch war die
Auswertung der Messdaten eine echte Herausforderung“, erinnert sich
Dronskowski. Die Forscher benötigten über zwei Jahre, um mit ihren
Algorithmen tausende von Strukturmöglichkeiten zu ermitteln und diese
mit dem experimentellen Resultat zu vergleichen. Auf diese Weise gelang
es schließlich, die Struktur der Kristalle zu identifizieren, die sich
im Inneren der Messzelle gebildet hatten: Sie bestehen tatsächlich aus
H2CO3-Molekülen, die durch Wasserstoff-Brücken miteinander verbunden
sind und eine niedrigsymmetrische – in der Fachsprache „monokline“ –
Struktur bilden.
„Unsere Arbeit war in erster Linie
Grundlagenforschung: Chemiker müssen das einfach wissen, sie können
nicht anders. Aber jetzt, wo wir die Umstände kennen, unter denen sich
Kohlensäure bildet, sind praktische Anwendungen denkbar“, betont
Dronskowski. So können Kosmologen künftig, wenn sie auf fernen Planeten
oder Monden Spuren von Kohlensäure finden, auf die Bildungsbedingungen
rückschließen. Interessant könnten die Ergebnisse auch für das
Geoengineering sein: So lässt sich erst jetzt berechnen, wann
Kohlendioxid, das unter hohem Druck in den feuchten Untergrund gepresst
wird, unter Umständen Kohlensäurekristalle bildet.
Publikation: Sebastian
Benz, Da Chen, Andreas Möller, Michael Hofmann, David Schnieders,
Richard Dronskowski: The Crystal Structure of Carbonic Acid, erschienen
in: Inorganics (open access) 3.9.2022, https://www.mdpi.com/2304-6740/10/9/132