Bei Krankheiten wie etwa Krebs ist eine gesteigerte Zellvermehrung ein wesentliches Merkmal. Einem Forschungsteam der Uni Würzburg und zweier Leibniz-Institute ist es jetzt gelungen, indirekt auf diesen Prozess Einfluss zu nehmen.
So unterschiedlich sich Autoimmunerkrankungen wie beispielsweise
Multiple Sklerose, entzündliches Rheuma oder Schuppenflechte, aber auch
sämtliche Formen von Krebs auf die Betroffenen auswirken – ein Merkmal
ist ihnen allen gemeinsam: Sie alle gehen mit einer gesteigerten
Zellvermehrung einher. Dementsprechend müssen die Zellen die Produktion
von molekularen Bausteinen kräftig steigern, was zwangsläufig mit einem
stark erhöhten Energiebedarf dieser Zellen einhergeht.
Daher ist
die Kontrolle über die zelluläre Energiegewinnung und die Produktion
molekularer Bausteine eine wichtige Strategie bei der Entwicklung neuer
Medikamente gegen solche Krankheiten. Einem Team von
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der
Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) ist dabei jetzt ein
wichtiger Schritt gelungen. Über bisher ungenutzte pharmakologische
Angriffspunkte konnte es Einfluss auf diese zellulären Prozesse nehmen.
„Ein
typischer Angriffspunkt bei der Entwicklung neuer Wirkstoffe ist die
Vorliebe vieler Zellen für Zucker in Form von Glukose als Hauptenergie-
und Baustein-Lieferant, denn Glukose kann im Stoffwechsel quasi als
Allzweck-Molekül verwendet werden“, erklärt Antje Gohla. Allerdings sei
der therapeutische Erfolg dieser Strategie bisher begrenzt. Dabei sei
ein wichtiger Aspekt des menschlichen Stoffwechsels von der Forschung
lange Zeit ignoriert worden: „Parallel zu den bereits gut bekannten Ab-,
Um-, und Aufbauwegen von Glukose laufen im Untergrund auch verschiedene
‚Reparaturprozesse‘ ab, die für einen kontinuierlichen, reibungslosen
Stoffumsatz nötig sind“, erklärt Gohla.
Blockade an wichtigen Reparaturprozessen
Auf
diese Prozesse hat sich das Forschungsteam in seiner jetzt
veröffentlichten Studie konzentriert. Die Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler sind dafür der Frage nachgegangen, ob sich derartige
Reparaturprozesse als Angriffspunkte von Medikamenten eignen könnten.
Die Antwort ist eindeutig: „Wir konnten erstmals einen Wirkstoff
identifizieren, der zielgerichtet die Aktivität der sogenannten
Phosphoglykolat-Phosphatase hemmt, eines wichtigen Reparatur-Enzyms im
Zuckerstoffwechsel“, erklärt die Pharmakologin. Im Reagenzglas haben
diese Wirkstoffe wie erhofft die Vermehrung von Tumorzellen blockiert.
Phosphatasen
gelten prinzipiell als komplizierte pharmakologische Zielstrukturen.
Dementsprechend froh ist das Team, dass es ihm gelungen ist, einen
strukturell neuartigen Phosphatase-Inhibitor zu identifizieren und zu
charakterisieren.
Wichtige Unterstützung aus der Strukturbiologie
Unterstützung
erhielt Gohla bei dieser Suche von Expertinnen und Experten aus dem
Hochdurchsatz-Screening, der Metabolismus-Analytik, Strukturbiologie und
Medizinalchemie. Mit deren Hilfe sei es gelungen, in detaillierten
Untersuchungen den molekularen Wirkmechanismus eines Hemmstoffs der
Phosphoglykolat-Phosphatase aufzuklären.
Einen wesentlichen
Beitrag dazu lieferte Professor Hermann Schindelin vom
Rudolf-Virchow-Zentrum durch die Aufklärung der dreidimensionalen
Struktur der Phosphoglykolat-Phosphatase im Komplex mit dem Wirkstoff
mittels Röngtenkristallstrukturanalyse. „Die Visualisierung des
Wirkstoffs in räumlicher Nachbarschaft zum aktiven Zentrum erklärt nicht
nur die enzymkinetischen Daten, sondern liefert vor allem einen
Startpunkt für die zukünftige Entwicklung einer neuen Generation von
Hemmstoffen mit verbesserten Bindungseigenschaften“, führt der
Strukturbiologe aus.
Perspektive für neue Therapien
Insgesamt
zeigen die Ergebnisse, dass es noch bisher ungenutzte pharmakologische
Angriffspunkte im zellulären Zuckerstoffwechsel gibt. Während sich die
Forschung bislang auf die Haupt-Stoffwechselwege der Glukose
konzentriert habe, die auch für viele gesunde Zellen lebenswichtig sind,
zielt dieser neue Ansatz auf den gesteigerten Bedarf an
Reparaturprozessen im hochaktiven Stoffwechsel krankheitsassoziierter
Zellen ab. „Das Konzept ist also, mit einem pharmakologischen Ansatz
dafür zu sorgen, dass sich beispielsweise Tumorzellen oder
fehlgesteuerte Immunzellen abhängig von ihrer Stoffwechselaktivität
durch das Anhäufen toxischer Nebenprodukte selbst ausbremsen oder sogar
vergiften“, erklärt Gohla.
Bis der neue Wirkstoff als Medikament
zur Behandlung von Autoimmunkrankheiten oder Krebs eingesetzt werden
kann, ist es allerdings noch ein weiter Weg. Die Autorinnen und Autoren
der Studie hoffen jedoch, dass sich auf Basis ihrer grundlegenden
Untersuchungen in Zukunft neue Perspektiven bei der Behandlung von
Tumoren, Autoimmunkrankheiten oder chronisch-entzündlichen Erkrankungen
auftun.
Quelle: Gesellschaft Deutscher Chemiker e.V. (11/2022)
Publikation: Glycolytic
flux control by drugging phosphoglycolate phosphatase. Elisabeth
Jeanclos, Jan Schlötzer, Kerstin Hadamek, Natalia Yuan-Chen, Mohammad
Alwahsh, Robert Hollmann, Stefanie Fratz, Dilan Yesilyurt-Gerhards, Tina
Frankenbach, Daria Engelmann, Angelika Keller, Alexandra Kaestner,
Werner Schmitz, Martin Neuenschwander, Roland Hergenröder, Christoph
Sotriffer, Jens Peter von Kries, Hermann Schindelin, Antje Gohla. Nature
Communications, DOI: 10.1038/s41467-022-34228-2