Nobelpreis 2022 für Pionierleistungen auf dem Gebiet der Paläogenetik
Der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin geht in diesem Jahr an Svante Pääbo. Zu seinen bedeutendsten wissenschaftlichen Erfolgen zählt die Entschlüsselung des Neandertaler-Genoms. „Seine Arbeiten haben unser Verständnis der Evolutionsgeschichte der modernen Menschen revolutioniert“, so Martin Stratmann, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. So habe Svante Pääbo zum Beispiel nachgewiesen, dass Neandertaler und andere ausgestorbene Hominiden einen wesentlichen Beitrag zur Abstammung der heutigen Menschen geleistet haben.
Svante Pääbo, studierte an der Universität Uppsala Ägyptologie und
Medizin. Als Doktorand – er promovierte in Immunologie – wies er
außerdem nach, dass DNA in altägyptischen Mumien überdauern kann, und
erlangte so fachlichen Ruhm als Pionier des neuen Forschungsgebietes der
Paläogenetik. Paläogenetiker erforschen die Genome altertümlicher
Organismen und ziehen daraus Rückschlüsse auf den Verlauf der Evolution.
Nach
seiner Promotion arbeitete Pääbo im Team des Evolutionsbiologen Allan
Wilson an der University of California in Berkeley. Ab 1990 leitete er
ein eigenes Labor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1997
wechselte Pääbo als einer von fünf Direktoren an das neu gegründete
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, wo er bis
heute tätig ist.
Bereits Mitte der 1990er-Jahre konnten Pääbo
und sein Team einen relativ kurzen Bestandteil der Mitochondrien-DNA
eines Neandertalers entschlüsseln. Mitochondrien sind winzige Kraftwerke
in Zellen, die diese mit Energie versorgen und über eine eigene DNA
verfügen. Diese DNA der Neandertaler unterschied sich deutlich von dem
Erbgut heutiger Menschen. Damit war erwiesen, dass Neandertaler nicht
die direkten Vorfahren jetziger Menschen sind.
Da die
DNA-Sequenzierungsmethoden Anfang der 2000er-Jahre sehr viel effizienter
wurden, begann Pääbo das komplette Genom der Neandertaler zu
sequenzieren, das im Zellkern vorhanden ist.
Ein gigantisches Puzzle
Die
Schwierigkeit dabei: Die Knochen von Neandertalern sind nach
Jahrtausenden im Boden von Bakterien und Pilzen derart stark besiedelt,
dass bis zu 99,9 Prozent der darin gefundenen DNA von Mikroben stammt.
Zudem liegen die geringen Mengen verbliebener Neandertaler-DNA nur in
kurzen Bruchstücken vor, die wie ein gigantisches Puzzle zusammengesetzt
werden müssen. Viele Wissenschaftler glaubten, diese Aufgabe sei
unlösbar.
Pääbos Team ersann jedoch neue Lösungen. So arbeiteten
die Forscher unter „Reinraum-Bedingungen“ vergleichbar mit denen in der
Chip-Industrie. So konnten sie verhindern, dass sie versehentlich ihre
eigene DNA in die Versuche einbrachten. Darüber hinaus entwickelten sie
effizientere Extraktionsmethoden, die die Ausbeute der Neandertaler-DNA
verbesserten. Komplexe Computerprogramme, die die DNA-Schnipsel der
altertümlichen Knochen mit Referenz-Genomen von Schimpansen und Menschen
verglichen, halfen dabei, das Genom der Neandertaler zu rekonstruieren.
2010
gelang es Svante Pääbo und seinem Team, eine erste Version des Genoms
der Neandertaler aus Knochen zu rekonstruieren, die Zehntausende von
Jahren alt sind. Die Vergleiche des Neandertaler-Genoms mit den Genomen
heutiger Menschen ergaben, dass moderne Menschen und Neandertaler bei
ihrem Zusammentreffen vor rund 50.000 Jahren gemeinsamen Nachwuchs
gezeugt hatten, als moderne Menschen Afrika verließen und in Europa und
Asien ankamen.
Noch heute finden sich deshalb im Genom heutiger
nichtafrikanischer Menschen zirka zwei Prozent Neandertaler-DNA. Dieser
genetische Beitrag beeinflusste die menschliche Evolution: Er stärkte
beispielsweise das Immunsystem der modernen Menschen, trägt jedoch auch
heute noch zur Anfälligkeit für mehrere Krankheiten bei.
„Neandertaler
sind die engsten Verwandten des heutigen Menschen“, sagte Svante Pääbo.
„Vergleiche ihrer Genome mit denen heutiger Menschen sowie mit denen
von Menschenaffen ermöglichen uns zu bestimmen, wann genetische
Veränderungen bei unseren Urahnen eintraten.“ Dabei könnte künftig auch
geklärt werden, warum moderne Menschen schließlich eine komplexe Kultur
und Technologie entwickelten, die ihnen ermöglichten, fast die ganze
Welt zu besiedeln. Dies erforderte jedoch ein vollständigeres Wissen
über das Neandertaler-Genom als das Team 2010 erlangt hatte.
Den menschlichen Ursprüngen auf den Grund gehen
2014
gelang es dem Team am Max-Planck-Institut für evolutionäre
Anthropologie, das Neandertaler-Genom fast komplett zu entschlüsseln.
Dadurch wurde ein Vergleich mit den Genomen heutiger Menschen möglich.
„Wir haben zirka 30.000 Positionen gefunden, in denen sich die Genome
von fast allen heutigen Menschen von denen der Neandertaler sowie denen
der Menschenaffen unterscheiden“, so Pääbo. „Sie beantworten, was
anatomisch moderne Menschen auch im genetischen Sinn ‚modern‘ macht.“
Einige dieser genetischen Veränderungen bilden womöglich den Schlüssel
zum Verständnis, was die kognitiven Fähigkeiten heutiger Menschen von
denen, nun ausgestorbener, Hominiden unterscheidet.
Im Vorfeld
dessen war Svante Pääbos Team bereits 2012 eine Sensation gelungen: Es
entschlüsselte das Genom aus einem kleinen Knochen, den es in der
Denisova-Höhle im westsibirischen Altai-Gebirge gefunden hatte. Die
rätselhaften Ur-Menschen waren entfernt mit den Neandertalern verwandt
und steuerten bis zu fünf Prozent zum Genom der heutigen Einwohner von
Papua-Neuguinea, der Aborigines Australiens und anderer Gruppen in
Ozeanien bei.
Derzeit arbeiten die Forscher an neuen Methoden,
DNA-Fragmente zu rekonstruieren, die noch stärker zersetzt und in noch
geringeren Mengen vorhanden sind. Ziel ist es, die Erforschung noch
älterer DNA zu ermöglichen sowie Erbgut aus Teilen der Welt, in denen
das Überdauern der DNA aufgrund von heißem und feuchtem Klima noch
seltener ist.