Ein deutsch-amerikanisches Forschungsteam hat herausgefunden, dass das angeborene Immunsystem bei Infektion mit RNA-Viren wie SARS-CoV-2 nur dann Alarm auslöst, wenn die Viren die Struktur einer Zelle – das Zytoskelett – stören. Die Präsenz von viralen Bestandteilen allein, wie bisher angenommen, ist nicht ausreichend, um eine volle Immunantwort hervorzubringen. Diese neue Erkenntnis hilft zu verstehen, wie der Körper Viren spezifisch detektiert, Fehlalarme vermeidet und zwischen „Freund“ und „Feind“ unterscheidet.
Eine gut eingestellte Alarmanlage löst erst dann aus, wenn
tatsächlich jemand versucht, unbefugt ins Haus einzudringen. Die Kunst
besteht darin, Fehlalarme zu vermeiden, aber eben dann auszulösen, wenn
konkrete Gefahr besteht. „Genau dies gilt auch für das menschliche
Immunsystem im Umgang mit Krankheitserregern wie Viren. Denn unnötige
Alarmzustände bedeuten Stress, und Überreaktionen des Immunsystems sind
für den Organismus gefährlich“, erklärt Dr. Konstantin Sparrer, Leiter
einer BMBF-Nachwuchsgruppe am Institut für Molekulare Virologie der
Ulmer Universitätsmedizin.
Gemeinsam mit Professorin Michaela
Gack, Direktorin des Florida Research and Innovation Center der
Cleveland Clinic in Port Saint Lucie, hat Sparrer eine Studie geleitet,
die untersucht, wie die Zelle bemerkt, ob sie mit RNA-Viren infiziert
ist; dazu gehören beispielsweise SARS-CoV-2 aber auch Grippe- oder
Zikaviren. Denn im Falle einer Infektion muss das Immunsystem schnell
und gezielt reagieren können. Eine Schlüsselrolle bei der Viruserkennung
und dem Auslösen einer antiviralen Antwort spielen zelluläre
Sensorproteine, die bei „Gefahr im Verzug“ über bestimmte
Signalübertragungswege die Immunabwehr mobilisieren.
Doch wann
werden diese Sensoren aktiv? Bislang wurde angenommen, dass bestimmte
Moleküle – oft viralen Ursprungs – ausreichen, um eine Immunantwort
auszulösen. Dazu gehören beispielsweise virale Genome oder auch virale
Nukleinsäuren, die sozusagen am „falschen Ort“ sind. Das
deutsch-amerikanische Forschungsteam – zu dem auch die beiden Leiter des
Ulmer Instituts für Molekulare Virologie Professor Frank Kirchhoff und
Professor Jan Münch gehören – fand nun heraus, dass allein die Präsenz
dieser ‚fremden‘ Moleküle jedoch nicht ausreicht, damit Alarm geschlagen
wird. Neu ist nun die Erkenntnis, dass es ein zweites Signal braucht,
um Sensor-Proteine für RNA-Viren vollständig zu aktivieren. Treten diese
Viren in Kontakt mit der Zelle oder vermehren sie sich in ihr, kommt es
zu Strukturveränderungen im Aktin-Zytoskelett der Zelle. Diese
minimalen Störungen der Ordnung werden von einem Protein (R12C)
ausgelesen, das in der aktuellen Studie identifiziert wurde. Nur wenn
beide Bedingungen erfüllt sind – die Präsenz von ‚fremden‘ Molekülen und
eine Änderung des Zytoskeletts – werden die Sensorproteine aktiviert
und eine vollständige Antwort des angeborenen Immunsystems ausgelöst.
„Im Prinzip funktioniert das Zytoskelett einer Zelle hier wie das Netz
einer Spinne. Es signalisiert bei Berührung, dass sich ein Eindringling
nähert“, erläutert der Ulmer Virologe Sparrer.
„Die Bedeutung
dieser Erkenntnis ist weitreichend. Sie erweitert die vorherrschende
Lehrbuchmeinung um ein neues Konzept, wie das angeborene Immunsystem
aktive Viren effektiv und selektiv erkennt. Dies kann sicherlich dabei
helfen, antivirale Therapien und Impfstoffe noch effektiver zu machen“,
so die deutsche Molekularbiologin Gack, die in Florida forscht. „Wir
wissen jetzt auch mehr darüber, wie das Immunsystem Fehlalarme
vermeidet“, ergänzen die Ulmer Forscher.
Gefördert wurde die
Studie vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie von
der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des
Sonderforschungsbereichs 1279 „Nutzung des menschlichen Peptidoms zur
Entwicklung neuer antimikrobieller und Anti-Krebs-Therapeutika“ und über
die „National Institutes of Health“ (NIH).
Publikation: Dhiraj
Acharya, Rebecca Reis, Meta Volcic, GuanQun Liu, May K. Wang, Bing Shao
Chia, Rayhane Nchioua, Rüdiger Groß, Jan Münch, Frank Kirchhoff,
Konstantin M. J. Sparrer* and Michaela U. Gack*. Actin Cytoskeleton
Remodeling Primes RIG-I-like Receptor Activation. In: Cell, September
15, 2022; *ko-korrespondierende Autoren doi:10.1016/j.cell.2022.08.011