Geschichte des Roggens: Wie frühe Landwirte die Pflanzen genetisch unflexibler machten |
Im Laufe vieler Tausend Jahre hat der Mensch aus dem Roggen eine Kulturpflanze gemacht und dabei dessen genetische Flexibilität erheblich eingeschränkt. Wilder Roggen verfügt heute nicht nur über ein vielfältigeres Erbgut, sondern können dieses auch freier durchmischen als seine domestizierten Verwandten. Das zeigt ein Forschungsteam unter Leitung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) und des Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in einer neuen Studie im Fachjournal "Molecular Biology and Evolution". Die Ergebnisse erklären auch, warum der Kulturroggen schlechter gegen Entwicklungen wie den Klimawandel gewappnet ist als wild lebende Arten.
Für die Arbeit untersuchte das Team verschiedene Eigenschaften und
das Erbgut von 916 wilden und domestizierten Roggenpflanzen, die aus
unterschiedlichen Regionen Europas und Asiens stammen. Von besonderem
Interesse war dabei die sogenannte Rekombinationslandschaft des Roggens.
Damit wird im Prinzip beschrieben, wie häufig das Erbgut bei der
Zellteilung innerhalb einer Pflanze entlang eines Chromosoms durchmischt
wird. "Der Prozess der Rekombination spielt bei der Evolution einer Art
eine wichtige Rolle, weil so zum Beispiel zwei vorteilhafte
Genvarianten miteinander kombiniert werden können", sagt Dr. Steven
Dreissig von der MLU. Es könnten aber auch nützliche von unvorteilhaften
Varianten getrennt werden. Je größer die Rekombinationslandschaften,
desto flexibler können die Pflanzen ihr Erbgut durchmischen.
Für
die frühen Landwirte war dieser Prozess jedoch von Nachteil: In der
Landwirtschaft kommen vor allem einheitliche Sorten zum Einsatz, bei
denen die Pflanzen alle über die gleichen Eigenschaften und das gleiche
Erbgut verfügen. Beim Roggen komme, so Dreissig, erschwerend hinzu, dass
die Pflanzen auf eine Fremdbefruchtung angewiesen sind - anders als
Gerste oder Weizen können sie sich nicht selbst bestäuben. "Roggenpollen
können bis zu einige Kilometer weit fliegen. So können Populationen,
die eigentlich räumlich getrennt sind, trotzdem noch in Kontakt stehen
und ihr Erbgut miteinander austauschen", sagt Dreissig.
Vor etwa
12.000 Jahren fingen die Menschen damit an, Getreide wie Gerste oder
Weizen anzubauen. Die meisten heute etablierten Sorten haben ihren
Ursprung in der Region des Fruchtbaren Halbmonds im Mittleren Osten.
"Beim Roggen geht man eher davon aus, dass er sich zunächst als Unkraut
in Richtung Europa verbreitete und dort erst wesentlich später
domestiziert werden konnte, weil es keine störenden wilden Verwandten
gab", sagt Dr. Martin Mascher vom IPK, der auch Mitglied des Deutschen
Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv)
Halle-Jena-Leipzig ist.
Anhand der neuen Analysen ist es den
Forschenden gelungen, die Verbreitung des Roggens und eine Art
Verwandtschaftsnetzwerk von Asien bis nach Zentraleuropa zu
rekonstruieren. Je größer die Distanz zwischen den einzelnen Standorten,
desto größer sind zum Beispiel auch die Unterschiede in der
Rekombinationslandschaft der Pflanzen: "Wir haben tatsächlich große
Unterschiede zwischen domestiziertem und wildem Roggen gefunden, vor
allem im Hinblick auf die nicht-rekombinierenden Bereiche. Im
Kulturroggen ist der Rekombinationsbereich deutlich kleiner als bei
unkrautartigen Pflanzen, wie sie heute zum Beispiel noch in der Türkei
zu finden sind", sagt Dreissig. Für Kulturpflanzen ist das von Vorteil,
weil Pflanzen mit gewünschten Eigenschaften, zum Beispiel festen Ähren
und großen Körnern, so einheitlicher und auch kontrollierbarer werden.
Wilder Roggen profitiert hingegen von der genetischen Flexibilität: Sie
können so besser auf Störfaktoren, etwa auf ein sich veränderndes Klima,
reagieren.
Das Team fand zudem einen Genbereich, der einen
großen Einfluss auf die Flexibilität des Erbguts zu haben scheint. Dabei
fanden sie auch ein Gen, das bereits aus Studien zur Hefe bekannt war
und dort ebenfalls die Rekombinationslandschaften beeinflusst.
Den Artikel finden Sie unter:
https://pressemitteilungen.pr.uni-halle.de/index.php?modus=pmanzeige&pm_id=5435
Quelle: Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (07/2022)
Publikation: Schreiber
M. et al. Recombination Landscape Divergence Between Populations is
Marked by Larger Low-Recombining Regions in Domesticated Rye. Molecular
Biology and Evolution (2022). doi: 0.1093/molbev/msac131 https://academic.oup.com/mbe/article/39/6/msac131/6605708?login=true |