Im Meerwasser tummeln sich unzählige Lebewesen, vom grössten Tier der Erde, dem Blauwal, bis hin zu winzigen Mikroorganismen. Diese sind nicht nur sehr zahlreich, sondern auch wichtig für das Funktionieren des gesamten Öko-? und Klimasystems. So produzieren photosynthetisch aktive Mikroorganismen wie Cyanobakterien rund 50 Prozent des in der Atmosphäre vorhandenen Sauerstoffs. Auch entziehen solche Kleinstlebewesen der Atmosphäre Kohlendioxid und wirken damit der Klimaerwärmung entgegen.
Trotz ihrer Bedeutung ist die Vielfalt der Meeres-?Mikroorganismen
erst ansatzweise erforscht. Eine Gruppe von Forschenden um Shinichi
Sunagawa, Professor für Mikrobiomik, hat deshalb mit der Gruppe von Jörn
Piel, beide am Institut für Mikrobiologie der ETH Zürich, und Serina
Robinson von der Eawag auf die Suche gemacht.
Um neue, bakteriell
fabrizierte Naturstoffe aufzuspüren, untersuchten Sunagawa und seine
Mitarbeitenden DNA-?Daten von 1000 Wasserproben aus allen Meeresregionen
der Welt und aus verschiedenen Wassertiefen. Die Daten stammen unter
anderem von Ozeanexpeditionen und Beobachtungsplattformen im Meer.
Dank
moderner Verfahren wie etwa der Analyse von in der Umwelt vorhandener
DNA (eDNA = environmental DNA) ist es einfacher geworden, neue Arten zu
suchen und herauszufinden, welche bekannten Organismen wo vorkommen.
Kaum bekannt ist, welche «special effects» die marinen Mikroorganismen
bieten, also welche chemischen Verbindungen sie herstellen, die für
Wechselwirkungen zwischen Organismen wichtig sind. Allenfalls haben
solche Verbindungen auch für den Menschen einen Nutzen.
Die
Forschung geht davon aus, dass das Meeresmikrobiom ein hohes Potenzial
für Naturstoffe birgt, die beispielsweise als Antibiotika interessant
sein könnten. Die in den Proben vorhandene eDNA wurde extrahiert und
Baustein für Baustein analysiert. Am Computer rekonstruierten die
Wissenschaftler:innen dann ganze Genome und erschlossen sich damit die
in Genen verschlüsselte Information, sprich die Baupläne von Proteinen.
Schliesslich führten sie ihre neuen Daten mit bestehenden 8500
Genomdatensätzen von marinen Mikroorganismen in einer einzigen Datenbank
zusammen.
Dadurch konnten sie auf 35'000 Genome zurückgreifen,
um nach neuen Arten von Mikroorganismen und gezielt nach
vielversprechenden Biosynthetischen Gen-?Clustern (BGC) zu suchen. Ein
BGC ist eine Gruppe von Genen, welche die Bauanleitung für einen
Naturstoff liefern.
Neue Arten und Moleküle entdeckt
Die
Forschenden spürten in diesen Genomdaten nicht nur viele potenziell
interessante BGC – insgesamt 40'000 - auf, sondern auch unbekannte
Bakterienarten aus dem Stamm der Eremiobacterota. Diese Gruppe von
Bakterien war zuvor nur aus Landlebensräumen bekannt und fiel nicht
durch eine besondere biosynthetische Vielfalt auf.
Sunagawa und
seine Mitarbeitenden benannten eine Familie dieser Bakterien neu als
Eudoremicrobiaceae und zeigen zudem auf, dass diese Bakterien häufig und
weit verbreitet sind: Eine Art aus dieser Familie, Eudoremicrobium
malaspinii, stellt in gewissen Meeresgebieten bis zu sechs Prozent aller
vorhandenen Bakterien.
«Die Verwandten aus dem Meer weisen ein
für Bakterien riesiges Genom auf, dessen komplette Entschlüsselung
technisch anspruchsvoll war, da die Organismen bisher nicht kultiviert
wurden», betont Sunagawa. Die neuen Bakterien hätten sich zudem als die
Mikroorganismengruppe mit der höchsten Vielfalt an BGC in allen
untersuchten Proben entpuppt. «Sie sind nach aktuellem Stand die
biosynthetisch vielfältigste Familie in der Wassersäule der Ozeane»,
sagt er.
Zwei der BGC von Eudoremicrobiaceae betrachteten die
Forschenden eingehend: einen Gen-?Cluster, der den genetischen Code für
Enzyme enthält, die gemäss Sunagawa in dieser Konstellation noch nie in
einem bakteriellen BGC gefunden wurden. Als zweites Beispiel
untersuchten sie einen bioaktiven Naturstoff, der ein proteinspaltendes
Enzym hemmt.
Überraschung bei experimenteller Überprüfung
In
Zusammenarbeit mit der Gruppe von Jörn Piel überprüften die Forschenden
den Aufbau und die Funktion der beiden Naturstoffe experimentell.
Da
E. malaspinii nicht kultiviert werden konnte, mussten die Gene als
Bauanleitung für die Naturstoffproduktion erst von Piels Mitarbeitenden
einem Modellbakterium eingepflanzt werden. Dieses produzierte dann die
entsprechenden Substanzen. Die Forschenden isolierten schliesslich die
Moleküle aus den Zellen, bestimmten die Struktur und überprüften ihre
biologische Aktivität.
Das war nötig, da die von
Computerprogrammen vorhergesagte Enzymaktivität in einem Fall nicht mit
den experimentell ermittelten Ergebnissen übereinstimmte. Sunagawa:
«Computervorhersagen darüber, welche chemischen Reaktionen ein Enzym
ausführen wird haben ihre Grenzen. Deshalb müssen solche Prognosen im
Zweifel immer im Labor überprüft werden.»
Das kostet viel Zeit,
ist aufwändig und nicht für 40'000 potenzielle Naturstoffe, die in der
Datenbank schlummern, machbar. Aber: «Unsere Datenbank birgt grosses
Potential. Sie steht allen interessierten Forschern offen», betont der
Forscher.
Neben der fortgesetzten Zusammenarbeit mit Piels Gruppe
zur Entdeckung neuer Naturstoffe, möchte Sunagawa sich mit offenen
Fragen der Evolution und der Ökologie der Meeresmikroorganismen
befassen, etwa wie Mikroorganismen im Meer verteilt werden, da sie sich
nur passiv über grosse Distanzen verbreiten können. Auch möchte er
herausfinden, welchen ökologischen oder evolutionären Vorteil gewisse
Gene den Mikroben verschaffen. Der ETH-?Professor vermutet, dass die BGC
dabei eine grössere Rolle spielen könnten.
Publikation: Paoli
P, Ruscheweyh H-J, Forneris CC, et al. Biosynthetic potential of the
global ocean microbiome. Nature, 2022. DOI: 10.1038/s41586-?022-04862-3