Selbstorganisation komplexer Strukturen: Ein Blick auf die Uhr |
Makromoleküle wie zelluläre Strukturen oder Viruskapside können ohne äußere Einflüsse aus kleinen Bausteinen entstehen und bilden dabei komplexe Raumstrukturen aus. Diese Selbstorganisation ist ein zentrales Merkmal biologischer Systeme. Auch in der Nanotechnologie werden solche Verfahren immer wichtiger, um Nanopartikel aufzubauen. Aus einzelnen Basen entstehen etwa beim DNA-Origami größere Strukturen.
Doch wie lassen sich diese Reaktionen optimieren? Dieser Frage geht
der LMU-Physiker Prof. Dr. Erwin Frey mit seinem Team nach. Die
Forschenden haben nun einen Ansatz entwickelt, der auf dem Konzept der
Zeitkomplexität beruht und neue Strategien für effizientere Synthesen
komplexer Strukturen ermöglicht, wie sie im Fachmagazin PNAS berichten.
Ein Konzept aus den Computerwissenschaften
Die
Zeitkomplexität beschreibt ursprünglich Probleme aus der Informatik.
Dabei wird untersucht, wie der Zeitbedarf eines Algorithmus steigt, wenn
mehr Daten zu verarbeiten sind. Der Aufwand könnte sich etwa bei
doppelter Datenmenge verdoppeln, quadrieren oder mit noch höherer Potenz
anwachsen. Schlimmstenfalls vergrößert sich die Laufzeit des
Algorithmus so stark, dass in vertretbarer Zeit kein Resultat mehr
ausgegeben wird.
„Diesen Gedanken haben wir auf die
Selbstorganisation übertragen“, erklärt Frey. „Unser Ansatz war: Wie
ändert sich die Zeit zum Aufbau großer Strukturen, wenn die Zahl
einzelner Bausteine anwächst?“ Nimmt man an, dass sich die erforderliche
Spanne – wie im Pendant aus der Informatik – mit zunehmender Zahl an
Komponenten sehr stark potenziert, wären keine sinnvollen Synthesen
großer Strukturen möglich. „Das heißt, man möchte Verfahren entwickeln,
bei denen die Zeit möglichst wenig von der Zahl der Komponenten
abhängt“, erklärt Frey.
Die LMU-Forscherinnen und -Forscher haben
nun solche Zeit-Komplexitätsanalysen mit Hilfe von Computersimulationen
und mathematischen Berechnungen durchgeführt und ein neues Verfahren
zur Herstellung komplexer Strukturen entwickelt. Ihre Berechnungen
zeigen: Unterschiedliche Strategien, komplexe Moleküle aufzubauen, haben
ganz unterschiedliche Zeitkomplexitäten – und damit auch eine
unterschiedliche Effizienz. Manche Verfahren eignen sich besser, andere
schlechter, um in der Nanotechnologie komplexe Strukturen zu
synthetisieren. „Unsere Zeit-Komplexitätsanalyse führt zu einer
einfachen, aber aussagekräftigen Beschreibung von
Selbstmontageprozessen, um präzise vorauszusagen, wie die Parameter
eines Systems gesteuert werden müssen, um eine optimale Effizienz zu
erreichen“, erklärt Florian Gartner, Mitglied in Freys Gruppe und
Erstautor des Papers.
Das Team demonstrierte die Praktikabilität
des neuen Ansatzes an einem bekannten Beispiel aus der Nanotechnologie:
Die Wissenschaftler analysierten, wie sich eine Virushülle mit hoher
Symmetrie effizient herstellen lässt. Dabei führten zwei
unterschiedliche Montageprotokolle bei geringem Zeitaufwand zu hohen
Ausbeuten, wie Computersimulationen zeigten.
Eine neue Strategie der Selbstorganisation
Bislang
setzten Wissenschaftler bei solchen Experimenten auf eine experimentell
anspruchsvolle Methode, bei der Bindungsstärken zwischen einzelnen
Bausteinen modifiziert werden. „Im Unterschied dazu beruht unser Modell
ausschließlich auf der Kontrolle der Verfügbarkeit der einzelnen
Bausteine und bietet daher eine einfachere und effektivere Möglichkeit,
künstliche Selbstorganisationsprozesse zu regulieren“, erklärt Gartner.
Das neue Verfahren sei hinsichtlich seiner Zeiteffizienz vergleichbar,
teilweise auch besser als etablierte Methoden. „Vor allem verspricht
dieses Schema, vielseitiger und praktikabler zu sein als herkömmliche
Montagestrategien“, berichtet der Physiker.
„Unsere Arbeit stellt
einen konzeptionell neuen Ansatz zur Selbstorganisation dar, von dem
wir überzeugt sind, dass er für die Physik, die Chemie und die Biologie
von großem Interesse sein wird“, so Freys Resümee. „Darüber hinaus
liefert er konkrete Vorschläge für neue experimentelle Protokolle in der
Nanotechnologie, der synthetischen und der molekularen Biologie.“
Den Artikel finden Sie unter:
https://idw-online.de/de/news786883
Quelle: Informationsdienst Wissenschaft e. V. / Ludwig-Maximilians-Universität München (01/2022)
Publikation: Florian M. Gartner, Isabella R. Graf, Erwin Frey: The Time Complexity of Self-Assembly. PNAS 2022 |