Bewegte Ladungen - Strahlung lässt Moleküle tanzen
Ein internationales Team unter Leitung der Forschungsgruppe von Prof. Dr. Markus Gühr im Institut für Physik und Astronomie der Universität Potsdam hat Ladungsbewegungen in lichtangeregten Molekülen von Thiouracil, einer modifizierten Nukleobase, beobachtet. Diese Klasse von Molekülen hat eine Vielzahl von medizinischen Anwendungen, einschließlich möglicher neuer Krebstherapien. Die Ergebnisse der am Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY durchgeführten Laserexperimente wurden jetzt in Nature Communications publiziert. Sie eröffnen neue Möglichkeiten, die Ladungsflüsse innerhalb der Moleküllandschaft zu kartieren.
Nahezu alle Energiequellen sind auf die Sonne als primäre Quelle
angewiesen. Die Natur ist reich an effizienten und ökonomischen
molekularen Maschinen, die Lichtenergie in veränderte chemische
Bindungen, elektrischen Strom oder Wärme umwandeln können. Auf
mikroskopischer Ebene erfolgt die Umwandlung des absorbierten Lichts in
andere Energieformen durch einen elektrischen Ladungsfluss in den
Molekülen.
Das hier untersuchte Molekül Thiouracil (C4H4N2OS)
gehört zur Klasse der Thiobasen. Diese Moleküle werden aus den natürlich
vorkommenden Nukleobasen – welche genetische Informationen zu DNA und
RNA kodieren – gewonnen, indem ein oder mehrere Sauerstoffatome durch
Schwefel ersetzt werden. Thiobasen haben eine Vielzahl von
Anwendungsmöglichkeiten, wie z.B. Medikationen, die das Immunsystem nach
Organtransplantationen herunterfahren, und möglicherweise auch die
photoinduzierte Krebstherapie zur Zerstörung von Tumorzellen. Reguläre
Nukleobasen leiten die durch UV-Anregung erhaltene Energie schnell ab
und vermeiden so potenzielle Mutationen. Werden Thiobasen mit UV-Licht
bestrahlt, gehen sie stattdessen in angeregte Zustände über, was zur
Bildung einer reaktiven Form von Sauerstoff in der Nähe des Moleküls
führt.
Das Team nutzte die Empfindlichkeit der
Röntgen-Photoelektronen-Spektroskopie für bestimmte Atome innerhalb
eines Moleküls, um lichtangeregtes Thiouracil auf einer
Femtosekunden-Zeitskala (1 Femtosekunde = 10-15 s) zu untersuchen. Ein
erster ultravioletter (UV) Lichtpuls regte Thiouracil an und löste eine
ultraschnelle Ladungsbewegung innerhalb des Moleküls aus. Ein zweiter
verzögerter Röntgenpuls ionisierte bestimmte Elektronen, die sich stark
am Schwefelatom des Moleküls konzentrierten. Die Autoren beobachteten
zeitabhängige Veränderungen in der Energie dieser Photoelektronen, die
direkt den Ladungsfluss vom und zum Schwefelatom widerspiegeln.
David
Picconi, theoretischer Chemiker und einer der korrespondierenden
Autoren der Studie, fand den direkten Zusammenhang zwischen der
Photoelektronenenergie und den Ladungsänderungen: „Wir haben modernste
quantenchemische Berechnungen auf viele verschiedene molekulare
Strukturen angewandt“, sagt er, „und dabei festgestellt, dass die
UV-Anregung die Elektronendichte in der Nähe des Schwefelatoms
verringert und durchweg zu einer niedrigeren Energie der durch die
Röntgenstrahlen ausgestoßenen Photoelektronen führt. Das ist
verständlich, denn bei geringerer Elektronendichte ist die
Coulomb-Anziehung des Schwefelkerns stärker, ein höherer Anteil der
Röntgenenergie wird für die Ionisation benötigt, und dem Photoelektron
bleibt weniger Energie.“ Dieser Zusammenhang zwischen lokaler Ladung und
Photoelektronenspektroskopie wurde bereits vom schwedischen
Nobelpreisträger Kai Siegbahn für Moleküle ohne Lichtanregung
formuliert. Die Autoren wenden nun genau dieselben Konzepte auf den
lichtangeregten Zustand von Molekülen an.
Die experimentelle
Studie erhellt den mikroskopischen Mechanismus, warum Thiobasen in
potenziell schädliche Zustände übergehen. Dieser Prozess erwies sich als
ziemlich komplex. Dennis Mayer, einer der Erstautoren der Publikation,
bemerkt: „Unser erster Blick auf das Photoelektronensignal während des
Experiments offenbarte keine besonders detaillierten Merkmale.
Freie-Elektronen-Laser weisen viele Fluktuationen auf, aber
glücklicherweise gibt es auch Diagnosemöglichkeiten, um diese zu messen.
Die spätere Korrektur ergab schöne zeitabhängige Oszillationen in der
kinetischen Energie der Photoelektronen.“ Die oszillierende
Photoelektronenenergie und damit die oszillierende Ladung am
Schwefelatom deutet darauf hin, dass das Molekül zwischen verschiedenen
elektronischen Konfigurationen hin und her springt, bevor es sich
schließlich im angeregten Zustand einpendelt.
Das Team führte die
Studie an der Free-Electron Laser Facility FLASH 2 des DESY in Hamburg
durch, in einer nach Kai Siegbahn benannten Experimentierhalle. Dort
hatte die Potsdamer Gruppe die einmalige Chance, gemeinsam mit der
FLASH-Facility ein neues Instrument für diese Art von Forschung zu
bauen. Möglich wurde dies durch Drittmittel des Bundesministeriums für
Bildung und Forschung. Fabiano Lever, einer der Erstautoren der Arbeit,
berichtet: „Es war das erste Mal, dass ich an einem solchen
Gemeinschaftsexperiment in einer großen Einrichtung teilgenommen habe,
und ich hatte viel Spaß beim Bau des Instruments, vor allem bei der
Arbeit an der Schnittstelle zu einer so großen und komplizierten
Maschine wie FLASH.“
Die Arbeiten an FLASH wurden von einem
internationalen Zusammenschluss von Wissenschaftlern aus Potsdam, vom
DESY, der Universität Hamburg und dem Center for Free-Electron Laser
Science, dem Heidelberger Institut für Theoretische Studien, der
Universität Göteborg, dem European XFEL und dem SLAC National
Accelerator Laboratory durchgeführt. Markus Gühr freut sich auf weitere
spannende Experimente: „Bisher haben wir die Ladungsdynamik nur aus dem
Blickwinkel eines bestimmten Atoms im Molekül betrachtet. Wenn wir dies
auf verschiedene Atome ausdehnen, können wir eine vollständige
dynamische Karte des Ladungsflusses innerhalb der Moleküllandschaft
erstellen.“
Publikation: Mayer,
D., Lever, F., Picconi, D. et al. Following excited-state chemical
shifts in molecular ultrafast x-ray photoelectron spectroscopy. Nat
Commun 13, 198 (2022). https://www.nature.com/articles/s41467-021-27908-y