Ein internationales Team unter deutsch-französischer Leitung hat aufgedeckt, dass Mutationen im Gen ONECUT1 Formen von Diabetes auslösen können. Solche Gendefekte führen zur Fehlfunktion der Bauchspeicheldrüse und beeinträchtigen die Insulin-Produktion der Betazellen. Die Studie, an der Forschende des Universitätsklinikums Ulm federführend beteiligt waren, wurde in der hochrenommierten Fachzeitschrift „Nature Medicine“ veröffentlicht. Das Journal gehört mit einem Impact-Faktor von mehr als 53 zu den international führenden in der Medizin. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit helfen bei der Personalisierung von Diabetes-Therapien.
Diabetes mellitus ist eine Volkskrankheit. Mehr als sieben Prozent
der Erwachsenen in Deutschland leiden unter dieser chronischen
Stoffwechselerkrankung, und zunehmend sind auch Kinder davon betroffen.
Die Krankheit geht einher mit einem zu hohen Blutzuckerspiegel, der
langfristig mit gravierenden Folgeerkrankungen verbunden ist. Ursachen,
Krankheitszeichen und -verläufe unterscheiden sich je nach Diabetes-Typ.
Neben den klassischen Diabetesformen, bekannt als Typ 1 und Typ 2
Diabetes, existieren auch seltenere Formen, bei denen die Erkrankung
monogenetisch ist, also durch einen einzigen Gendefekt ausgelöst wird.
Ein
internationales Forschungsteam konnte nun in einer „Nature
Medicine“-Studie zeigen, dass Mutationen im Gen ONECUT1 eine
Schlüsselrolle bei der Entstehung bestimmter Diabetes-Formen spielen.
Nicht nur bei Patientengruppen mit monogenetischem Diabetes fanden die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Gendefekte in ONECUT1. Sie
konnten darüber hinaus auch nachweisen, dass Varianten dieses Gens bei
speziellen Formen von Typ 2 Diabetes eine wichtige Rolle spielen, die
sich im frühen Erwachsenenalter zeigen.
„Mit unserer Studie
konnten wir ein bisher unbekanntes humanes Diabetes-Gen identifizieren“,
erklärt Heisenberg-Professor Alexander Kleger, Leiter der
Pankreas-Arbeitsgruppe an der Klinik für Innere Medizin I des
Universitätsklinikums Ulm. „Diese Entdeckung ist von hoher klinischer
Relevanz, weil sie uns dabei helfen kann, Diabetes-Erkrankungen
personalisiert zu behandeln und dabei den genetischen Besonderheiten des
Einzelnen Rechnung zu tragen “, ergänzt der Mediziner. Kleger hat
zusammen mit Dr. Cécile Julier, Humangenetikerin am renommierten Cochin
Institut in Paris, die Studie geleitet. Den Forscherinnen und Forschern
ist es nicht nur gelungen, diesen speziellen genetischen Defekt bei
Menschen mit Diabetes-Erkrankungen nachzuweisen, sie konnten darüber
hinaus auch den Mechanismus näher beleuchten, wie die ONECUT1-Varianten
die Funktion der insulin-produzierenden Beta-Zellen beeinträchtigen. Das
Gen ONECUT1 spielt nämlich eine wesentliche Rolle in der
Pankreasentwicklung. Mutationen in diesem wichtigen Gen stören diesen
komplexen Prozess an verschiedenen Stellen.
Um die
molekular-genetischen Netzwerke der Pankreasentwicklung besser verstehen
zu können, wurden humane pluripotente Stammzellen mit deaktiviertem
ONECUT1-Gen zu Pankreaszellen differenziert. Außerdem wurden Hautzellen
von Patienten zu Stammzellen re-programmiert, die danach wiederum zu
Pankreaszellen entwickelt wurden. Das Ergebnis dieser aufwändigen
Laboruntersuchungen zeigte, dass die Bildung von Vorläuferzellen der
Bauchspeicheldrüse durch die neu entdeckten ONECUT1-Genvarianten
entscheidend beeinträchtigt war und zudem die Insulin-produzierenden
Beta-Zellen des Pankreas in ihrer Funktion der Blutzuckerregulation
nachhaltig gestört waren.
Das Forschungsteam konnte zudem die
molekular-genetischen Mechanismen entschlüsseln, die diese
Funktionsstörung auslösen. „Es zeigte sich unter anderem, dass
Mutationen im ONECUT1-Gen andere Transkriptionsfaktoren bei der Bindung
an die DNA behindert haben und somit Pankreas-spezifische
Genexpressionsregulatoren in ihrer Aktivität reduziert waren“, betont
die Ulmer Wissenschaftlerin Dr. Sandra Heller, die zusammen mit dem
Bioinformatiker Professor Ivan Costa vom Uniklinikum Aachen zu den vier
Erstautoren der „Nature Medicine“-Veröffentlichung gehört.
„Das
Ergebnis dieser gemeinsamen Studie ist ein Meilenstein. Sie zeigt, wie
die Zusammenarbeit aus klinischer Medizin, Humangenetik und
patientennaher Grundlagenforschung helfen kann, eine komplexe
Stoffwechselerkrankung besser zu verstehen. Vermeintliche Fälle von
klassischem Typ 2 Diabetes beispielsweise entpuppen sich bei genauerer
Betrachtung als Fälle von monogenetischem Diabetes. Dies ist nicht
zuletzt für die Steuerung der Therapie der Betroffenen bedeutsam“, so
die Forschenden.
Beteiligt an dem internationalen und
interdisziplinären Gemeinschaftsprojekt waren Forschende aus
Deutschland, Frankreich und den USA, aus dem Libanon, den Vereinten
Arabischen Emiraten sowie Österreich und Singapur. Professor Alexander
Kleger leitete den funktionellen, Dr. Cécile Julier den genetischen Teil
der Studie. Für die Studie wurde eine französische Indexfamilie von
Professor Marc Nicolino charakterisiert. Eine baden-württembergische
Patientenkohorte mit einem früh-manifestierten Typ 2 Diabetes wurde von
Professor Bernhard Böhm rekrutiert. Die wissenschaftliche Arbeit wurde
maßgeblich durch ein Kollaborationsprojekt des französischen Agence
Nationale de la Recherche (ANR) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft
(DFG) unterstützt, sowie durch das Boehringer Ingelheim Ulm University
BioCenter „BIU 2.0“.
Zum Hintergrund: Das Gen ONECUT1 kodiert für
ein Protein mit dem Namen One cut homeobox 1. Dieses Protein agiert als
sogenannter Transkriptionsfaktor, der ein- oder ausgeschaltet darüber
entscheidet, ob bestimmte Gene aktiv sind oder nicht.
Transkriptionsfaktoren sorgen allgemein dafür, dass die genetische
Information der DNA in der richtigen Zelle, zur richtigen Zeit und in
der richtigen Menge in sogenannte Boten-RNA transformiert wird. Diese
mRNA wiederum liefert die Baupläne für die Biosynthese bestimmter
Proteinen, die selbst wiederum eine Vielzahl von Funktionen erfüllen.
ONECUT1 ist ein Teil einer ganzen Familie von Genen, die für Proteine
kodieren, die gleichermaßen eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung von
Bauchspeicheldrüse und Leber spielen.
Publikation: Mutations and variants of ONECUT1 in diabetes A.
Philippi*, S. Heller*, I. G. Costa*, V. Senée*, M. Breunig, Z. Li, G.
Kwon, R. Russell, A. Illing, Q. Lin, M. Hohwieler, A. Degavre, P.
Zalloua, S. Liebau, M. Schuster, J. Krumm, X. Zhang, R. Geusz, J. R.
Benthuysen, A. Wang, J. Chiou, K. Gaulton, H. Neubauer, E. Simon, Th.
Klein, M. Wagner, G. Nair, C. Besse, C. Dandine-Roulland, R. Olaso,
J.-F. Deleuze, B. Kuster, M. Hebrok, Th. Seufferlein, M. Sander, B. O.
Boehm, F. Oswald, M. Nicolino$, C. Julier$#, A. Kleger$#, In: Nature
Medicine, 18 October 2021 https://doi.org/10.1038/s41591-021-01502-7