Können Lebewesen die Veränderung ihres Erbguts beeinflussen?
Forschenden des Kiel Evolution Center gelingt erstmals der Nachweis, dass Veränderungen bestimmter Proteine in der Verpackung des Erbguts eine ursächliche Wirkung auf die Häufigkeit von Genmutationen haben. Die Veränderung von Erbinformationen über die Zeit ist ein Schlüsselfaktor für evolutionäre Anpassungen, mit denen Lebewesen auf Veränderungen ihrer Umwelt reagieren können. Einerseits entsteht genetische Variabilität im Zuge der Fortpflanzung, bei der Erbinformationen aufgeteilt und im entstehenden Nachwuchs neu kombiniert werden. Zusätzlich sind Mutationen eine weitere wichtige Quelle genetischer Variabilität. Diese genetische Vielfalt bietet dann den Ansatzpunkt für das Wirken der natürlichen Selektion, die in der Weitervererbung bestimmter vorteilhafter genetischer Varianten mündet und somit eine Anpassung an veränderte Umweltbedingungen ermöglicht.
Mutationen treten innerhalb der gesamten Erbinformationen eines
Organismus unterschiedlich häufig und an verschiedenen Orten auf. Bei
vielzelligen Lebewesen ist die DNA durch bestimmte Proteine verpackt,
unter anderem die sogenannten Histone. Modifikationen dieser Proteine
wirken sich darauf aus, wie dicht das Erbgut gepackt wird. Forschende
vermuten, dass dies wiederum die Mutationsrate beeinflusst: Zahlreiche
Forschungsarbeiten in den Lebenswissenschaften beschäftigen sich mit den
Zusammenhängen von solchen Modifikationen und der Häufigkeit von
Mutationen. In der Krebsforschung war es beispielsweise möglich zu
zeigen, dass solche Modifikationen und an der Tumorentstehung beteiligte
Mutationen häufig gemeinsam auftreten.
Kieler Forschende bestätigen ursächliche Wirkung in neuer Publikation
Forschenden
des Kiel Evolution Center (KEC) an der Christian-Albrechts-Universität
zu Kiel (CAU) gelang es nun am Beispiel des Pilzes Zymoseptoria tritici,
einem Schädling der Weizenpflanze, erstmals, auch einen ursächlichen
Zusammenhang von solchen Protein-Modifikationen und der Mutationsrate
nachzuweisen. Dazu führten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
aus der Arbeitsgruppe Umweltgenomik am Botanischen Institut der CAU um
Professorin Eva Stukenbrock umfangreiche Evolutionsexperimente durch.
Die Forschenden analysierten darin die Mutationsraten in Pilzkolonien,
in denen sie künstlich bestimmte Enzyme ausschalteten, die für die
natürlich auftretenden Modifikationen verantwortlich sind. Im Vergleich
mit nicht veränderten Pilzen konnten sie so bestimmten, dass die
Mutationsraten abwichen und daher die Protein-Modifikationen direkte
Ursache einer veränderten Mutationsrate sind. Ihre neuen
Forschungsergebnisse veröffentlichten die Kieler Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler heute im renommierten Fachmagazin Nature
communications. Umfangreiche Evolutionsexperimente
Bei
vielzelligen Lebewesen ist die DNA mithilfe der Histone-Proteine
organisiert. Diese Anordnung der Erbinformationen, die man sich wie eine
Verpackung vorstellen kann, beeinflusst unter anderem, wie die
Erbinformationen ausgelesen und vervielfältigt werden. Fehler in diesem
auch als Replikation bezeichneten Prozess können, neben Faktoren aus der
Umwelt, zu Mutationen führen. Um die Wirkung von Modifikationen der an
dieser Verpackung beteiligten Proteine auf die Häufigkeit von Mutationen
zu untersuchen, führte das Kieler Forschungsteam besonders umfangreiche
Evolutionsexperimente durch. Dabei verglichen sie Pilz-Kolonien, bei
denen künstlich bestimmte Enzyme der DNA-Verpackung ausgeschaltet waren,
mit unveränderten Kolonien. Die ursprünglichen und die veränderten
Proben beobachteten sie dann über den Zeitraum von einem Jahr, um die
Entstehung genetischer Varianten in beiden Gruppen zu vergleichen.
Um
dabei den Einfluss von Selektionsprozessen auszuschließen, wählten die
Forschenden einmal wöchentlich eine zufällige Pilz-Kolonie aus und
züchteten aus dieser mit jeweils einer einzelnen Zelle eine neue Kolonie
an. So schufen sie jeweils einen sogenannten evolutionären
Flaschenhals, der die entstandenen Genvariationen in der
Nachfolgegeneration fixierte. Damit konnten sie auf diesem Weg
sicherstellen, dass die Häufigkeit der genetischen Veränderungen der
Pilze nicht durch Selektion beeinflusst wurde. Durch den langen
Untersuchungszeitraum und die hohe Anzahl an parallelen Ansätzen
sammelte sich so ein großes Repertoire an Mutationen in den Pilzkolonien
an. Mit Hilfe von Hochdurchsatz-Genomsequenzierungen analysierten die
Forschenden dann die gesamten Erbinformationen der vielen verschiedenen
Varianten und konnten so ermitteln, wie häufig genetischen Veränderungen
insgesamt auftraten.
„Die experimentelle Hemmung epigenetischer
Modifikationen führte dazu, dass sich die Mutationsraten stark
veränderten – je nach Art der Veränderung Mutationen also entweder
deutlich häufiger oder aber seltener auftraten. Die Modifikationen sind
also für die Häufigkeit und den Ort spontaner Mutationen im Genom direkt
verantwortlich und können die evolutionäre Entwicklung einer Art
beeinflussen“, fasst Dr. Michael Habig, Wissenschaftler in der
Arbeitsgruppe Umweltgenomik und Erstautor der Arbeit, zusammen. „Damit
zeigt unsere Studie anhand von experimentellen Daten, die es bisher von
keiner anderen Spezies gab, dass verschiedene epigenetische
Modifikationen und Änderungen der Mutationsrate nicht nur korrelieren,
also parallel auftreten, sondern ursächlich aufeinander beruhen“, so
Habig weiter.
Können Organismen Mutationsraten steuern?
Die
neuen Ergebnisse des Kieler Forschungsteams aus dem KEC liefern damit
erste Ansätze, um eine neuartige Forschungsfrage zu beantworten: Ob und
wie Organismen ihre Mutationsraten eigenständig manipulieren oder
optimieren können. Speziell bei den Beziehungen von Schädlingen und
Wirtsorganismen wie eben beispielsweise Zymoseptoria tritici und Weizen
wäre es plausibel, wenn solche gesteuerten Modifikationen stattfänden,
um die gegenseitige Anpassung zu beschleunigen. „Da sie sich gemeinsam
entwickeln und dabei auf wechselseitige Veränderungen reagieren müssen,
gibt es Bereiche in den Erbinformationen von Wirt und Schädling, die
sich schneller anpassen müssen als andere“, erklärt Habig. „Dies könnte
möglicherweise ein Punkt sein, an dem ein Organismus auf seine
Mutationsraten einwirkt, um eine beschleunigte Anpassung an das
Gegenüber zu erreichen“, so Habig weiter. Dafür spräche unter anderem,
dass bestimmte Modifikationen besonders in solchen Bereichen des
Erbgutes liegen, die dem Pilz bei der Überwindung des pflanzlichen
Immunsystems helfen.
In künftigen Forschungen wollen die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchen, ob diese Eingriffe
in das Genom tatsächlich gezielt stattfinden und mit evolutionären
Anpassungsprozessen in Verbindung stehen. „Unsere neuen Ergebnisse sind
damit grundsätzlich auch auf verschiedenen Anwendungsfeldern relevant.
Der Nachweis, dass epigenetische Modifikationen und Mutationsraten
kausal zusammenhängen, eröffnet neue Perspektiven für ein ganzes
Spektrum von Forschungsfeldern“, betont Stukenbrock, Leiterin der
Arbeitsgruppe Umweltgenomik und KEC-Mitglied. „Unter anderem werden uns
die neuen Erkenntnisse künftig dabei helfen, die Anpassungen von
Pflanzenschädlingen an ihre Wirte oder aber die Evolution von Tumoren
besser zu verstehen“, so Stukenbrock weiter.
Quelle: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (10/2021)
Publikation: Michael
Habig, Cecile Lorrain, Alice Feurtey, Jovan Komluski and Eva H.
Stukenbrock (2021): Epigenetic modifications alter the rate of
spontaneous mutations in a pathogenic fungus. Nature Communications
First published 7. October 2021 https://www.nature.com/articles/s41467-021-26108-y#Bib1