Pockenviren haben einen einzigartigen Weg gefunden, ihre Gene im infizierten Organismus in Proteine zu übersetzen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Biozentrum der Universität Würzburg ist es jetzt erstmals gelungen, Einblicke in die atomare Arbeitsweise der daran beteiligten molekularen Maschine zu erhalten. Mit ihren Aufnahmen können sie die frühe Phase der Transkription wie in einem Film darstellen.
Der weltweit letzte Pockenfall trat im Oktober 1977 in Somalia auf. 1980
hat die Weltgesundheitsorganisation WHO die Pocken für ausgerottet
erklärt. Offiziellen Angaben nach existiert das Virus heute nur noch in
zwei Hochsicherheitslaboren in Russland und in den USA und dient dort
Forschungszwecken.
Auch wenn es deshalb aktuell keine
unmittelbare Bedrohung mehr für den Menschen durch Pockenviren gibt, ist
diese Virusfamilie für Forscher nach wie vor von großem Interesse. Zum
einen werden modifizierte Stämme erfolgreich bei der Behandlung von
Krebserkrankungen eingesetzt, zum anderen faszinieren ihre
ungewöhnlichen Vermehrungseigenschaften.
Pockenviren bauen ihre eigene Vermehrungsmaschine
Während
sich viele Viren in großem Umfang der biochemischen Ausstattung der
Wirtszelle bedienen, um sich zu vermehren, kodieren Pockenviren eine
eigene molekulare Maschinerie dafür in ihrem Genom. Wichtige
Bestandteile dieser Maschinerie sind zwei Enzyme, die DNA-Polymerase,
die die viralen Gene vervielfältigt, und die RNA-Polymerase, die die
viralen Gene in mRNA umschreibt. Die RNA-Polymerase des
Pockenvirenstammes Vaccinia beispielsweise ist ein großer Komplex, der
15 verschiedene Proteinuntereinheiten mit unterschiedlichen
biochemischen Funktionen zusammenfasst.
Einem Forschungsteam vom
Biozentrum der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) ist es
jetzt erstmals gelungen, der Polymerase von Vaccinia-Viren auf atomarer
Ebene bei der Arbeit zuzusehen. Zuvor hatte es bereits in seinen
Experimenten die RNA-Polymerase in atomarer Auflösung dargestellt.
Verantwortlich für die Arbeiten ist die Gruppe um Utz Fischer, dem
Inhaber des Lehrstuhls für Biochemie I der JMU. In einer
Veröffentlichung in der Fachzeitschrift Nature Structure and Molecular
Biology stellt die Gruppe jetzt die Ergebnisse seiner Arbeit vor. Dreidimensionale Strukturen in atomarer Größenordnung
„Wir
haben isolierte RNA-Polymerase mit einem Stück DNA gemischt, das das
Startsignal für die Transkription viraler Gene, den Promoter, enthält.
Das Enzym erkannte präzise dieses DNA-Element, und fing an mRNA
herzustellen“, erläutert Julia Bartuli, die für die biochemische Arbeit
der Studie verantwortlich ist. Anschließend wurden die Proben in
Zusammenarbeit mit Bettina Böttcher vom Lehrstuhl für Biochemie II im
Kryo-Elektronenmikroskop untersucht. Auf Basis der dabei gesammelten
Daten konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die
dreidimensionale Struktur der Probe bis in die Größenordnung von Atomen
unter Einsatz moderner Computerverfahren rekonstruieren.
Von dem
Endergebnis dieses langwierigen Prozesses waren sie begeistert: „Wir
haben zwar nur eine Probe im Mikroskop untersucht, aus dieser konnten
wir aber insgesamt sechs unterschiedliche Polymerase-Komplexe
rekonstruieren, die wir schließlich einzelnen Phasen des
Transkriptionsprozesses zuordnen konnten“, erklärt Clemens Grimm, der an
Fischers Lehrstuhl für die Strukturanalyse verantwortlich ist. „Diese
Einzelaufnahmen erlauben uns, sie wie in einem Film aneinanderzureihen
und so die frühe Phase der Transkription auch zeitaufgelöst
darzustellen.“
Pocken sind weiterhin eine Bedrohung für den Menschen
Aber
warum sollte man über Pockenviren forschen, wenn das für Menschen so
gefährliche Virus doch bereits ausgerottet wurde? Hierfür gibt es gute
Gründe, wie Fischer entgegnet: „Eine Pockeninfektion ist nach wie vor
nicht zuverlässig heilbar, sondern nur durch eine Impfung zu verhindern.
Sollten bislang noch vorhandene Virusproben, beispielsweise durch einen
terroristischen Anschlag, wieder verbreitet werden, würden sie auf eine
Bevölkerung treffen, die keinen Impfschutz hat.“
Eine weitere,
möglicherweise realere Bedrohung sind Zoonosen, bei denen bislang
tierspezifische Viren auf den Menschen überspringen, erklärt Fischer. So
komme es sporadisch immer wieder zu Infektionen des Menschen durch
Affen-Pockenviren, die bei den Betroffenen ein schweres Krankheitsbild
hervorrufen können. „Sollte eine solche Zoonose durch weitere
Anpassungen an den menschlichen Wirt und eine
Mensch-zu-Mensch-Übertragung Fahrt aufnehmen, könnte eine gefährliche
Epidemie entstehen“, so der Biochemiker.
Mit dem Computer zu neuen Medikamenten
Wirkstoffe,
welche die Genexpression der Viren hemmen, wären als antivirale
Medikamente daher von großer Relevanz. Das Wissen über die atomaren
Strukturen der RNA-Polymerase in ihren verschiedenen Zuständen erlaubt
es den Forschern nun, die Entwicklung solcher Hemmstoffe über einen
rationalen, strukturbasierten Ansatz im Computer anzugehen. Derartige
Studien, die sich in ihrer Herangehensweise grundlegend von der
klassischen, versuchsbasierten Methode unterscheiden, sind bereits in
vollem Gange.
Stichwort Pockenviren
Vor 1976
Geborene tragen – zumindest in Deutschland – auf ihrem Oberarm die
deutlich sichtbare Narbe der Pockenschutzimpfung. Bis dahin galt in
Deutschland eine Impfpflicht. Diese Impfung ist einer der größten
Erfolge des modernen Infektionsschutzes: Sie führte zur Ausrottung des
tödlichen Pockenerregers. Dieser, wissenschaftlich bekannt als
Variolavirus, hatte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Menschheit
regelmäßig in Form von Pockenepidemien heimgesucht und viele Millionen
Menschen das Leben gekostet . Frühe Formen einer Art „Impfung“
sind schon aus dem Altertum bekannt. Damals legten sich Menschen den
Schorf abgeheilter Pocken in eine kleine Wunde und hofften, so einer
ernsthaften Erkrankung vorbeugen zu können. In Europa wurden im 18.
Jahrhundert derartige „Variolationen“ unter anderem auch am Würzburger
Juliusspital durchgeführt. Der Durchbruch im Kampf gegen die Pocken
gelang im Jahr 1796 dem Briten Edward Jenner, indem er das gefährliche
Pockenvirus durch den für Menschen wesentlich harmloseren Erreger der
Pferde- oder Kuhpocken ersetzte.
Der von Jenner verwendete Stamm
ist unter dem Namen Vaccinia in die Medizingeschichte eingegangen. Er
ist der Namensgeber für die heute gebräuchlichen Impfpraktiken, die
medizinisch als Vakzinationen bekannt sind. Die weltweite Impfkampagne
mit dem Vaccinia-Stamm führte schließlich dazu, dass die WHO 1980 zum
ersten und bisher einzigen Mal in der Geschichte der Menschheit die
globale Ausrottung einer Infektionskrankheit erklären konnte.
Publikation: Structural
basis of the complete poxvirus transcription initiation process.
Clemens Grimm, Julia Bartuli, Bettina Boettcher, Aladar A. Szalay and
Utz Fischer. Nature Structure and Molecular Biology. DOI: https://www.nature.com/articles/s41594-021-00655-w