Ein Team um die MDC-Forscherin Marina Chekulaeva hat herausgefunden, warum die Eiweißproduktion in den Nervenzellen von Patient*innen mit der Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung reduziert ist. Wie die Gruppe im Fachblatt „Nucleic Acids Research“ berichtet, könnte das zu einer ersten Therapie führen.
Die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT) ist ein seltenes erbliches
Leiden. Genveränderungen führen bei den Betroffenen dazu, dass
Nervenimpulse aus dem Gehirn vor allem bei den Muskeln der unteren
Gliedmaßen nicht ankommen. Als Folge davon wird die Muskulatur der
Unterschenkel nach und nach abgebaut. Die ersten Symptome der Krankheit,
Schmerzen und Bewegungseinschränkungen, treten meist schon im
Kindesalter auf. In Deutschland leben geschätzt rund 30.000 Menschen mit
CMT.
Veränderte Enzyme
„Wir wissen schon länger,
dass Mutationen in Genen, die für Enzyme namens
Aminoacyl-tRNA-Synthetasen (aaRS) kodieren, CMT verursachen können“,
erläutert Dr. Marina Chekulaeva, Leiterin der Arbeitsgruppe
„Nicht-Kodierende RNAs und Mechanismen der Genregulation im Cytoplasma“
am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie (BIMSB), das zum
Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der
Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) gehört.
Diese Enzyme sind für die
Eiweißproduktion einer Zelle erforderlich, die in den Ribosomen, den
zellulären Proteinfabriken, erfolgt. Ihre Aufgabe ist die
Aminoacylierung, bei der eine Aminosäure an ein weiteres Molekül, eine
sogenannte tRNA, gebunden wird. So können die einzelnen Aminosäuren in
den Ribosomen zu einer Proteinkette gemäß der im Erbgut gespeicherten
Bauanleitung verknüpft werden.
Gestörte Translation
„Das
Paradoxe ist, dass die Mutationen die Aminoacylierungsaktivität nicht
stören. Trotzdem beeinträchtigen sie die Translation, also die
Proteinherstellung in den Ribosomen“, sagt Marina Chekulaeva. „Um den
Mechanismus dahinter zu verstehen, haben mein Team und ich untersucht,
wie sich Mutationen in der Glycyl-tRNA-Synthetase auf die Prozesse der
Translation auswirken.“ Das Enzym ist bei Patienten mit einer
verbreiteten Form der CMT-Erkrankung, dem Typ 2D, verändert.
Die
Forschenden nutzten für ihre Arbeit unter anderem das
Ribosomen-Profiling, mit der sich die Aktivität der Ribosomen im Detail
ermitteln lässt. „Mithilfe dieser Technik können wir beispielsweise
genau bestimmen, an welchen Stellen die Proteinproduktion unterbrochen
wird und wie oft dies geschieht“, erläutert die Erstautorin der Studie,
Samantha Mendonsa, Doktorandin in Chekulaevas Team.
Zu kurze Proteinketten
„Wir
haben herausgefunden, dass die Genveränderung der CMT-Patient*innen
zunächst dazu führt, dass für die Translation weniger Glycyl-tRNA zur
Verfügung steht“, sagt Mendonsa. „Das hat zur Folge, dass die Ribosomen
ihre Eiweißproduktion an den Stellen unterbrechen, an denen die
Aminosäure Glycin in die wachsende Proteinkette eingebaut werden soll.“
Die Elongation, also die Verlängerung der Proteinkette, wird somit
gestoppt. „Darüber hinaus löst die Pause in den Proteinfabriken an den
Stellen für Glycin eine integrierte Stressreaktion der Ribosomen aus,
wodurch die Initiierung der Translation gestört ist“, berichtet die
Forscherin. Dadurch ist die gesamte Proteinproduktion reduziert.
Mendonsa
und Chekulaeva sind davon überzeugt, dass ihre Ergebnisse Ansätze für
neue Therapien gegen die bislang nicht ursächlich behandelbare
CMT-Erkrankung liefern können. „Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel die
Gabe von tRNA, um deren Mangel in den Nervenzellen zu beseitigen und so
den Stillstand in den Ribosomen wieder aufzuheben“, sagt Chekulaeva.
„Ein weiterer Ansatz könnte sein, die integrierte Stressreaktion der
Ribosomenmit geeigneten Wirkstoffen zu unterbinden.“ Diese Ansätze
weiterzuverfolgen, sei nun allerdings eine Aufgabe für klinische
Forscher*innen.
Offene Fragen
„Unser Team
interessiert sich nun zum Beispiel für die noch offene Frage, wie und
warum die Pause in den Ribosomen die Funktion der motorischen und
sensorischen Nervenfasern beeinträchtigt, die das Gehirn und die unteren
Gliedmaßen miteinander verbinden,“, sagt Chekulaeva. Die Antwort darauf
könnte für Menschen mit CMT vermutlich ebenfalls sehr nützlich werden.
Quelle: Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (09/2021)
Publikation: Mendonsa,
Samantha et al. (2021): Charcot-Marie-Tooth mutation in glycyl-tRNA
synthetase stalls ribosomes in a pre-accommodation state and activates
integrated stress response, in Nucleic Acids Research, https://doi.org/10.1093/nar/gkab730