Der Säuregrad von Molekülen lässt sich leicht bestimmen. Bei Atomen auf einer Oberfläche war das bisher nicht möglich. Mit einer neuen Mikroskopietechnik der TU Wien ist das nun gelungen. Wie sauer oder basisch eine Substanz ist, bestimmt maßgeblich ihr chemisches Verhalten. Entscheidend dafür ist die sogenannte Protonenaffinität. Sie gibt an, wie leicht ein Molekül ein einzelnes Proton annimmt oder abgibt. Bei einer Flüssigkeit ist das leicht zu messen, bei Oberflächen war das bisher aber nicht möglich. Das Problem daran ist, dass auf einer Oberfläche unterschiedliche Atome sitzen können, mit unterschiedlicher Protonenaffinität.
An der TU Wien gelang es nun, diese wichtige physikalische Größe
erstmals experimentell zugänglich zu machen: Mit einem speziell
modifizierten Rasterkraftmikroskop kann man die Protonenaffinität
einzelner Atome untersuchen. Mit dieser Methode wird es nun auch
möglich, Katalysatoren auf atomarer Skala gezielt zu analysieren. Diese
Ergebnisse wurden nun im Fachjournal „Nature“ publiziert. Präzision statt Mittelwert
„Alle
bisherigen Messungen des Säuregrades von Oberflächen hatten ein
wesentliches Problem“, sagt Prof. Ulrike Diebold vom Institut für
Angewandte Physik der TU Wien. „Wenn unterschiedliche Atome auf der
Oberfläche sitzen, die sich chemisch unterschiedlich verhalten, dann
konnte man immer nur einen Mittelwert messen.“
Man wusste nicht,
welches der Atome in welchem Ausmaß zum Ablauf chemischer Reaktionen
beiträgt, und so ließ sich aus den Messergebnissen auch nicht ableiten,
wie man die Oberflächen auf atomarer Skala anpassen muss, um bestimmte
chemische Reaktionen zu begünstigen. Doch genau das ist notwendig, etwa
wenn man nach effektiveren Katalysatoren für die Wasserstoffproduktion
sucht.
„Wir analysierten Oberflächen aus Indiumoxid. Sie sind
besonders interessant, denn dort gibt es an der Oberfläche gleich fünf
unterschiedliche Arten von OH-Gruppen mit unterschiedlichen
Eigenschaften“, sagt Margareta Wagner, die diese Messungen im Labor von
Prof. Diebold durchgeführt hat.
Mit einem speziellen Trick gelang
es, diese OH-Gruppen einzeln zu untersuchen: Man platziert eine
einzelne OH-Gruppe an der Spitze eines Rasterkraftmikroskops. Diese
Spitze kann man dann ganz gezielt über einem bestimmten Atom der
Oberfläche platzieren. Zwischen der OH-Gruppe der Spitze und der
OH-Gruppe direkt darunter auf der Indiumoxid-Oberfläche wirkt eine
Kraft, und diese Kraft hängt empfindlich vom Abstand ab.
„Wir
variieren den Abstand zwischen Spitze und Oberfläche und messen, wie
sich die Kraft dadurch ändert“, erklärt Margareta Wagner. „So erhalten
wir für jede OH-Gruppe auf der Materialoberfläche eine charakteristische
Kraftkurve.“Â Der Verlauf dieser Kraftkurve gibt Auskunft darüber, wie
gut die jeweiligen Sauerstoffatome der Indiumoxidoberfläche Protonen
festhalten – beziehungsweise, wie leicht sie Protonen abgeben.
Um
daraus einen konkreten Wert für die Protonenaffinität zu erhalten,
waren noch theoretische Arbeiten nötig, die von Bernd Meyer an der
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg durchgeführt wurden.
In aufwändigen Computersimulationen konnte gezeigt werden, wie sich die
Kraftkurve des Rasterkraftmikroskops auf recht einfache und präzise
Weise in jene Größen übersetzen lässt, die man in der Chemie benötigt.
Nanostruktur bestimmt die Qualität von Katalysatoren
„Für
die Weiterentwicklung von Katalysatoren ist das entscheidend“, sagt
Bernd Meyer. „Wir wissen, dass Atome derselben Atomsorte sich
unterschiedlich verhalten können, je nachdem, welche atomaren Nachbarn
sie haben und auf welche Weise sie in die Oberfläche eingebaut sind.“ So
kann es etwa einen großen Unterschied machen, ob die Oberfläche perfekt
glatt ist oder ob sie Stufen auf atomarer Skala aufweist. An solchen
Stufenkanten sitzen Atome mit einer kleineren Zahl an Nachbarn, und sie
können möglicherweise chemische Reaktionen deutlich verbessern oder
verschlechtern.
„Mit unserer funktionalisierten
Rasterkraftmikroskopspitze können wir solchen Fragen nun erstmals
präzise nachgehen“, sagt Ulrike Diebold. „Damit ist man hier nicht mehr
auf Versuch und Irrtum angewiesen, sondern kann chemische Eigenschaften
von Oberflächen genau verstehen und verbessern.“
Den Artikel finden Sie unter:
https://www.tuwien.at/tu-wien/aktuelles/news/news/wie-sauer-sind-atome
Quelle: Technische Universität Wien (04/2021)
Publikation: M. Wagner et al., “Direct assessment of the acidity of individual surface hydroxyls”, Nature (2021) https://www.nature.com/articles/s41586-021-03432-3 |