Röntgenquelle findet vielversprechende Kandidaten für Coronamedikamente
An DESYs hochbrillanter Röntgenlichtquelle PETRA III hat ein Forschungsteam mehrere Kandidaten für Wirkstoffe gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 identifiziert. Sie binden an ein wichtiges Protein des Virus und könnten damit die Basis für ein Medikament gegen Covid-19 sein. In einem sogenannten Röntgenscreening testeten die Forscherinnen und Forscher unter Federführung von DESY in kurzer Zeit fast 6000 bereits für die Behandlung anderer Krankheiten existierende Wirkstoffe. Nach der Messung von rund 7000 Proben konnte das Team insgesamt 37 Stoffe identifizieren, die an die Hauptprotease (Mpro) des SARS-CoV-2-Virus binden.
Sieben dieser Stoffe hemmen die Tätigkeit des Proteins und
bremsen so die Vermehrung des Virus. Zwei von ihnen tun das so
vielversprechend, dass sie zurzeit in präklinischen Studien weiter
untersucht werden. Das vermutlich größte Wirkstoffscreening dieser Art
brachte zudem eine neue Bindungsstelle an der Hauptprotease des Virus zu
Tage, an der Medikamente ankoppeln können.
Im Gegensatz zu
Impfstoffen, die gesunden Menschen helfen, sich gegen das Virus wehren
zu können, werden in der Wirkstoffforschung Medikamente gesucht, die bei
erkrankten Personen die Vermehrung des Virus im Körper bremsen oder zum
Erliegen bringen. Viren können sich allein nicht vermehren. Sie
schleusen stattdessen ihr eigenes Erbgut in die Zellen ihres Wirts ein
und bringen diese dazu, neue Viren herzustellen. Dabei spielen Proteine
wie die Hauptprotease des Virus eine wichtige Rolle. Sie zerschneidet
Proteinketten, die nach dem Bauplan des Viruserbguts von der Wirtszelle
hergestellt wurden, in kleinere Teile, die für die Vermehrung des Virus
notwendig sind. Gelingt es, die Hauptprotease zu blockieren, lässt sich
der Zyklus unter Umständen unterbrechen; das Virus kann sich nicht mehr
vermehren, und die Infektion ist besiegt.
Die Strahlführung P11
von DESYs Forschungslichtquelle PETRA III ist auf strukturbiologische
Untersuchungen spezialisiert. Hier lässt sich die dreidimensionale
räumliche Struktur von Proteinen atomgenau darstellen. Das nutzte das
Forschungsteam um DESY-Physiker Alke Meents, um mehrere tausend bekannte
Wirkstoffe aus einer Bibliothek des Fraunhofer-Instituts für
Translationale Medizin und Pharmakologie und einer weiteren der
italienischen Firma Dompé Farmaceutici SpA darauf zu untersuchen, ob und
wie sie an die Hauptprotease „andocken“ – der erste wichtige Schritt,
um sie zu blockieren. Wie der Schlüssel in ein Schloss passt dabei das
Wirkstoffmolekül in ein Bindungszentrum der Protease. Der Vorteil der
Wirkstoffbibliothek: Es handelt sich um bereits für die Behandlung von
Menschen zugelassene Wirkstoffe oder solche, die sich zurzeit in
verschiedenen Erprobungsphasen befinden. Geeignete Kandidaten zur
Bekämpfung von SARS-CoV-2 könnten daher erheblich schneller in
klinischen Studien eingesetzt werden und so Monate oder Jahre der
Wirkstoffentwicklung sparen.
Die technische Spezialausrüstung an
der PETRA III-Station P11 beinhaltet einen vollautomatischen
Probenwechsel mit einem Roboterarm, so dass jede der über 7000 Messungen
nur etwa drei Minuten dauerte. Mit Hilfe einer automatisierten
Datenanalyse konnte das Team schnell die Spreu vom Weizen trennen. „Mit
Hilfe eines Hochdurchsatzverfahrens haben wir insgesamt 37 Wirkstoffe
finden können, die eine Bindung mit der Hauptprotease eingehen“, sagt
Meents, der die Experimente initiierte.
In einem nächsten Schritt
untersuchten die Forscherinnen und Forscher am Bernhard-Nocht-Institut
für Tropenmedizin, ob diese Wirkstoffe in Zellkulturen die
Virusvermehrung hemmen oder gar verhindern, und wie verträglich sie für
die Wirtszellen sind. Hierbei reduzierte sich die Zahl der geeigneten
Wirkstoffe auf sieben, von denen zwei besonders hervorstachen. „Die
Wirkstoffe Calpeptin und Pelitinib zeigten die deutlich höchste
Antiviralität bei guter Zellverträglichkeit. Unsere Kooperationspartner
haben daher bereits präklinische Untersuchungen mit diesen beiden
Wirkstoffen begonnen“, erklärt DESY-Forscher Sebastian Günther,
Erstautor der Science-Veröffentlichung.
In ihrem
Wirkstoffscreening mit Hilfe der Proteinkristallographie untersuchten
die Forschenden nicht wie üblich Fragmente potenzieller Wirkstoffe,
sondern vollständige Wirkstoffmoleküle. Dabei entdeckte das Team aus
mehr als 100 Wissenschaftlerinnnen und Wissenschaftlern aber auch etwas
komplett Unerwartetes: Es fand eine Bindungsstelle an der Hauptprotease,
die bis dahin noch völlig unbekannt war. „Es war nicht nur eine
positive Überraschung, dass wir eine neue Bindestelle für Medikamente an
der Hauptprotease entdecken konnten – ein Ergebnis, das man wirklich
nur an einer Synchrotronlichtquelle wie PETRA III erzielen kann –,
sondern dass sogar einer der beiden heißen Wirkstoffkandidaten genau an
diese Stelle bindet“, sagt Christian Betzel vom Exzellenzcluster CUI der
Universität Hamburg, Mitinitiator der Studie.
„Eine besondere
Stärke unserer Methode des Röntgenscreenings im Vergleich zu anderen
Screeningmethoden ist, dass wir als Ergebnis die dreidimensionale
Struktur der Protein-Wirkstoff-Komplexe erhalten und damit die Bindung
der Wirkstoffe an das Protein auf atomarer Ebene bestimmen können.
Selbst wenn die beiden aussichtsreichsten Kandidaten es nicht in
klinische Studien schaffen sollten, so bilden die 37 Stoffe, die an die
Hauptprotease binden, eine wertvolle Datenbasis für darauf aufbauende
Medikametenentwicklungen,“ erläutert Patrick Reinke, DESY-Forscher und
Koautor der Veröffentlichung.
„Die Untersuchungen an PETRA III
zeigen eindrucksvoll, wie relevant hochbrillante Synchrotronlichtquellen
für die Entwicklung zukünftiger Medikamente und die
Gesundheitsforschung insgesamt sind“, unterstreicht Helmut Dosch,
Vorsitzender des DESY-Direktoriums. „Wir müssen und wollen unsere
Infrastrukturen künftig noch stärker zur Bewältigung von derartigen
Gesundheitskrisen ausbauen.“
An den Arbeiten sind neben
DESY-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftlern auch Forscherinnen und
Forscher der Universitäten Hamburg und Lübeck, des
Bernhard-Nocht-Instituts für Tropenmedizin, des Fraunhofer-Instituts für
Translationale Medizin und Pharmakologie, des Heinrich-Pette-Instituts,
des European XFEL, des Europäischen Laboratoriums für Molekularbiologie
EMBL, der Max-Planck-Gesellschaft, des Helmholtz-Zentrums Berlin und
weiteren Institutionen beteiligt. Zusätzlich zu den Experimenten an der
Messstation P11 wurden auch Messungen an den EMBL-Messstationen P13 und
P14 an PETRA III durchgeführt.
DESY zählt zu den weltweit
führenden Teilchenbeschleuniger-Zentren und erforscht die Struktur und
Funktion von Materie - vom Wechselspiel kleinster Elementarteilchen, dem
Verhalten neuartiger Nanowerkstoffe und lebenswichtiger Biomoleküle
bis hin zu den großen Rätseln des Universums. Die Teilchenbeschleuniger
und die Nachweisinstrumente, die DESY an seinen Standorten in Hamburg
und Zeuthen entwickelt und baut, sind einzigartige Werkzeuge für die
Forschung: Sie erzeugen das stärkste Röntgenlicht der Welt, bringen
Teilchen auf Rekordenergien und öffnen neue Fenster ins Universum. DESY
ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten
Wissenschaftsorganisation Deutschlands, und wird zu 90 Prozent vom
Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent von den
Ländern Hamburg und Brandenburg finanziert.