Entdeckung von flüssigem Glas wirft Licht auf das alte wissenschaftliche Problem des Glasübergangs: Ein interdisziplinäres Forschungsteam der Universität Konstanz entdeckt einen neuen Aggregatzustand, flüssiges Glas, mit bisher unbekannten Strukturelementen – neue Erkenntnisse über die Eigenschaften von Glas und seine Übergänge.
Obwohl Glas ein allgegenwärtiges Material ist, das wir täglich
verwenden, ist seine tatsächliche Natur nach wie vor ein großes Rätsel
und die wissenschaftliche Erforschung seiner chemischen und
physikalischen Eigenschaften noch längst nicht abgeschlossen. In der
Chemie und Physik ist der Begriff Glas ein wandelbares Konzept: Es
umfasst die Substanz, die wir als Fensterglas kennen, kann sich aber
auch auf eine Reihe anderer Materialien mit Eigenschaften beziehen, die
glasähnliches Verhalten aufweisen, darunter zum Beispiel Metalle,
Kunststoffe, Proteine und sogar biologische Zellen.
Auch wenn es
den Anschein hat, ist Glas alles andere als konventionell fest. Wenn ein
Material vom flüssigen in den festen Zustand übergeht, reihen sich die
Moleküle normalerweise auf und bilden ein kristallines Gitter. Anders
bei Glas: Hier sind die Moleküle regelrecht festgefroren bevor die
Kristallisation stattfindet. Dieser seltsame und ungeordnete Zustand ist
für Gläser in verschiedenen Systemen charakteristisch und die
Wissenschaft versucht immer noch zu verstehen, wie genau dieser
metastabile Zustand entsteht.
Neuer Aggregatzustand: flüssiges Glas
Forschung
von Prof. Dr. Andreas Zumbusch (Fachbereich Chemie) und Prof. Dr.
Matthias Fuchs (Fachbereich Physik), beide an der Universität Konstanz,
hat dem Glasrätsel nun eine weitere Komplexitätsebene hinzugefügt.
Anhand eines Modellsystems mit Suspensionen aus maßgeschneiderten
ellipsoiden Kolloiden entdeckten die Forscher einen neuen
Materiezustand, flüssiges Glas, in dem sich einzelne Teilchen zwar
bewegen, aber nicht drehen können – ein komplexes Verhalten, das bisher
in Gläsern nicht beobachtet wurde. Die Forschungsergebnisse werden in
der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Proceedings of the National
Academy of Sciences of the United States of America” (PNAS)
veröffentlicht (Veröffentlichungsdatum: 19. Januar 2021; online
veröffentlicht am 4. Januar 2021).
Kolloidale Suspensionen sind
Gemische oder Flüssigkeiten, die feste Teilchen enthalten, die mit
Größen von einem Mikrometer (ein Millionstel Meter) oder mehr größer als
Atome oder Moleküle sind und sich daher gut für die Untersuchung mit
dem Lichtmikroskop eignen. Sie werden gern von Forschenden, die
Glasübergänge untersuchen, verwendet, weil sie viele der Phänomene
aufweisen, die auch in anderen glasbildenden Materialien auftreten.
Maßgeschneiderte ellipsoide Kolloide
Bislang
bauten die meisten Experimente mit kolloidalen Suspensionen auf
sphärischen Kolloiden auf. Der Großteil natürlicher und technischer
Systeme besteht allerdings aus nicht-sphärischen Partikeln. Mit Hilfe
der Polymerchemie stellte das Team um Andreas Zumbusch kleine
Kunststoffpartikel her, streckte und kühlte sie, bis sie ihre ellipsoide
Form erreichten und brachte sie dann in ein geeignetes Lösungsmittel.
„Aufgrund ihrer besonderen Form haben unsere Teilchen – im Gegensatz zu
sphärischen Teilchen – eine Ausrichtung. Dies führt zu völlig neuen und
bisher nicht untersuchten Arten von komplexem Verhalten“, erklärt
Zumbusch, Professor für Physikalische Chemie und Hauptautor der Studie.
Anschließend
veränderten die Forscher die Partikelkonzentration in den Suspensionen
und verfolgten mit Hilfe der Konfokalmikroskopie sowohl die
Translations- als auch die Rotationsbewegung der Partikel. Zumbusch
fährt fort: „Bei bestimmten Teilchendichten friert die Orientierung ein,
während die Translationsbewegung bestehen bleibt, was zu glasartigen
Zuständen führt, bei denen die Teilchen sich in Clustern zusammenballen
und lokale Strukturen mit ähnlicher Ausrichtung bilden.“ Das, was die
Forscher als flüssiges Glas bezeichnen, entsteht dadurch, dass sich
diese Cluster gegenseitig behindern und charakteristische räumliche
Korrelationen mit großer Reichweite bilden. Diese verhindern die
Entstehung von flüssigen Kristallen, was der allgemein geordnete
Aggregatzustand wäre, den man im Rahmen der Thermodynamik erwarten
würde.
Zwei konkurrierende Glasübergänge
Was die
Forscher beobachteten, waren tatsächlich zwei konkurrierende
Glasübergänge – eine reguläre Phasenumwandlung und eine
Nicht-Gleichgewichtsphasenumwandlung – die miteinander interagierten.
„Das ist aus theoretischer Sicht unglaublich interessant“, kommentiert
Matthias Fuchs, Professor für Theorie der weichen Materie an der
Universität Konstanz und der zweite Hauptautor der Arbeit. „Unsere
Experimente liefern die Art von Beweisen für das Zusammenspiel zwischen
entscheidenden Fluktuationen und glasartiger Verfestigung, nach denen
die wissenschaftliche Gemeinschaft seit geraumer Zeit gesucht hat.“
Flüssiges Glas war nämlich zwanzig Jahre lang eine theoretische
Vermutung geblieben.
Die Ergebnisse deuten außerdem darauf hin,
dass es eine ähnliche Dynamik auch in anderen glasbildenden Systemen
geben könnte und könnten somit dazu beitragen, das Verhalten komplexer
Systeme und Moleküle vom ganz Kleinen (biologisch) bis zum ganz Großen
(kosmologisch) zu verstehen. Sie haben möglicherweise auch Auswirkungen
auf die Entwicklung von flüssigkristallinen Elementen.