COVID-19: Seltene Zellen im Blut weisen auf schweren Verlauf hin
Bei schweren Verläufen einer COVID-19-Erkrankung spielen nicht nur die üblicherweise als Immunzellen bezeichneten Zelltypen eine Rolle. Insbesondere unreife Vorläuferzellen im Blut, die normalerweise nur im Knochenmark vorkommen und die dort erst durch Reifung zu Blutzellen werden, weisen auf einen besonders schweren Verlauf der Erkrankung hin und könnten zu vielen der klinischen Komplikationen bei COVID-19 beitragen, wie ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung des Exzellenzclusters „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI) zeigen konnte.
Die neuen Erkenntnisse haben die Forschenden der
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), des Universitätsklinikums
Schleswig-Holsteins (UKSH) und der Universitäten Bonn, Köln, Lübeck,
Tübingen und Nijmegen sowie des Forschungszentrums Borstel – Leibniz
Lungenzentrum und des Deutschen Zentrums für neurodegenerative
Erkrankungen (DZNE) gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen des
nationalen DFG Forschungsverbundes „Deutsche COVID-19 OMICS Initiative“
(DeCOI) am Donnerstag (26.11.2020) im renommierten Fachmagazin Immunity
publiziert.
Auf der Suche nach einem Biomarker für einen schweren COVID-19-Verlauf
Infektionen
mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV2 nehmen sehr unterschiedliche
klinische Verläufe. Während viele mild oder sogar symptomlos verlaufen,
können sie insbesondere bei älteren Menschen auch lebensbedrohlich
werden. In diesen schweren Formen, die einen Krankenhausaufenthalt
notwendig machen, können neben einer Lungenentzündung auch weitere
Organe wie das Herz oder die Niere mitbetroffen sein. Hierbei spielt
eine fehlgeleitete Entzündungsreaktion eine wichtige Rolle. Darüber
hinaus deuten immer mehr Befunde darauf hin, dass Schäden an kleinen
Blutgefäßen und eine zu starke Blutgerinnung entscheidende Faktoren für
schwere Verläufe sind. So sind Blutgerinnsel in der Lunge eine der
häufigsten direkten Todesursachen bei COVID-19.
„Trotz
zahlreicher Studien wissen wir immer noch relativ wenig darüber, was den
Krankheitsverlauf und die Schwere der Erkrankung beeinflusst. Welche
Zelltypen spielen hier wann eine wichtige Rolle? Und können wir auf
diese Weise bestimmte molekulare Fingerabdrücke im Blut identifizieren,
die schon früh auf einen schweren Verlauf hinweisen? Das waren Fragen,
die wir uns am Anfang gestellt haben. Letztlich haben uns genau diese
Serienaufnahmen der Krankheit zu vorher unbeachteten Zelltypen geführt,
die charakteristisch für eine schwere COVID-19-Erkrankung sind“, erklärt
einer der federführenden Autoren der Studie, Professor Philip
Rosenstiel, Direktor des Instituts für klinische Molekularbiologie
(IKMB) der CAU und des UKSH und Vorstandsmitglied im Exzellenzcluster
PMI.
Zwei unreife Blutzelltypen charakteristisch für schweren Verlauf
Untersucht
hat das Team dazu Blutproben von Patientinnen und Patienten, die an den
Universitätskliniken in Kiel, Bonn, Köln und Nijmegen wegen einer
COVID-19-Erkrankung stationär behandelt wurden. Bei einer Gruppe von 14
Erkrankten wurden die im Blut vorkommenden Zellen in einer Zeitserie,
also zu verschiedenen Zeitpunkten während der Erkrankung, analysiert.
Als Vergleichsgröße dienten Blutproben gesunder Personen. „Das Besondere
ist, dass wir mithilfe der sogenannten Einzelzellgenomik
Hunderttausende Zellen durch Sequenzierung parallel analysiert haben und
damit auch seltenere Zelltypen identifizieren konnten“, erklärt Dr.
Joana Pimenta Bernardes, Nachwuchswissenschaftlerin des
Exzellenzclusters PMI und Postdoc am IKMB, die gemeinsam mit den anderen
beiden jungen Forschenden Dr. Florian Tran, Clinician Scientist des
Exzellenzclusters PMI, und Dr. Neha Mishra Erstautorin der Studie ist.
Mishra, die als Postdoc ebenfalls am IKMB forscht, erklärt weiter:
„Zusammen mit anderen Daten wie klinischen Laborwerten und Messungen von
Entzündungsbotenstoffen konnten wir eine Art Fingerabdruck, eine
Signatur, der veränderten Funktionsweise dieser Zellen, erstellen und
über die Zeit verfolgen.“
Signaturen von zwei unreifen Zelltypen
sind demnach für die COVID-19-Erkrankung besonders charakteristisch: von
Vorläuferzellen von Blutplättchen, sogenannten Megakaryozyten, und von
unreifen roten Blutkörperchen. „Das ist vor allem überraschend, weil
diese Vorläuferzellen sich normalerweise nicht im Blut, sondern im
Knochenmark befinden“, erklärt Tran. „Wir kennen solche Ausschwemmungen
von Vorläuferzellen ins Blut von schwerkranken Patientinnen und
Patienten, etwa bei einer bakteriellen Sepsis (Blutvergiftung). Für
COVID-19 ist dies bisher so nicht beschrieben worden“, so Tran weiter.
„Mithilfe
unserer Analysen konnten wir ein sehr detailliertes Bild von den
zellulären Veränderungen während des gesamten Krankheitsverlaufs
zeichnen. Während bisher vor allem die Immunzellen Beachtung fanden,
konnten wir mit den Vorläuferzellen nun auch Zelltypen finden, die
bisher übersehen worden sind“, sagt einer der Senior-Autoren Joachim
Schultze, Professor an der Universität Bonn und Direktor für
Systemmedizin am Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen
(DZNE).
Mögliche Erklärung für Gerinnungsprobleme bei COVID-19 gefunden
Besondere
Einblicke bekamen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler durch
eine Gruppe von 39 COVID-19-Patientinnen und -Patienten, die in Nijmegen
auf der Intensivstation behandelt worden waren, also besonders schwere
Verläufe hatten. Auffällig war hier, dass bei den Personen, die an der
Erkrankung verstarben, während des Krankheitsverlaufs die Signatur der
Megakaryozyten und der Vorläuferzellen der roten Blutkörperchen deutlich
stärker ausfiel, als bei den Personen, die die Intensivstation später
wieder verlassen konnten. „Die Megakaryozyten spiegeln ein bekanntes
COVID-19-Problem wieder: Blutplättchen sind zuständig für die
Blutgerinnung und eine der häufigsten direkten Todesursachen bei
COVID-19 sind Gerinnungsprobleme. Die aktivierten Megakaryozyten im Blut
bringen möglicherweise Blutplättchen hervor, die leichter aggregieren
und damit zu den Gerinnungsproblemen führen“, sagt Rosenstiel. Die
Zunahme der Vorläuferzellen der roten Blutkörperchen deutet auf einen
Sauerstoffmangel hin und ist als Notfallreaktion bei schweren
Lungenerkrankungen bekannt.
Gemeinsam zum Erfolg
Die
Studie wurde durch das bundesweite Konsortium, der „Deutschen COVID-19
OMICS Initiative“ (DeCOI), ermöglicht und entstand unter Mitwirkung von
Partnern aus dem „Human Cell Atlas“, einem internationalen Konsortium
zur Einzelzellanalyse. „Nur durch diese Teamarbeit konnten die komplexen
Analysen und die Interpretation der Daten überhaupt in der kurzen Zeit
bewältigt werden“, sagt Schultze, der auch Koordinator von DeCOI ist.
„Durch
die vorliegende Arbeit haben wir eine Grundlage für diagnostische
Testverfahren geschaffen, die anhand von Blutproben bereits früh einen
schweren Krankheitsverlauf erkennen. Damit könnte die Versorgung
besonders schwer betroffener Patientinnen und Patienten gezielt
verbessert werden“, betont einer der Senior-Autoren Professor Stefan
Schreiber, Direktor der Klinik für Innere Medizin I, UKSH, Campus Kiel,
Direktor am IKMB, Sprecher des Exzellenzclusters PMI. „Besonders freut
es mich, dass drei Nachwuchswissenschaftlerinnen und
Nachwuchswissenschaftler des Exzellenzclusters PMI als Erstautorinnen
und –autoren maßgeblich an dieser Arbeit beteiligt waren, darunter auch
einer unserer Clinician Scientists. Das zeigt, wie gerade die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der nächsten Generation
exzellente Forschung mit Relevanz für die Gesellschaft leisten.“
Quelle: Exzellenzcluster Präzisionsmedizin für chronische Entzündungserkrankungen (11/2020)
Publikation J.P.
Bernardes*, N. Mishra*, F. Tran* et al: Longitudinal multi-omics
analyses identify responses of megakaryocytes, erythroid cells and
plasmablasts as hallmarks of severe COVID-19 trajectories. Immunity
(2020). https://doi.org/10.1016/j.immuni.2020.11.017