Genetische Einflüsse spielen eine große Rolle bei der Entstehung einer Lese- und Rechtschreibstörung. Ein internationales Team von Wissenschaftlern hat jetzt ein weiteres Gen identifiziert, das in diesen Prozess involviert ist.
Die Legasthenie oder Lese- und Rechtschreibstörung ist eine der häufigsten Teilleistungsstörungen im Kindes- und Jugendalter. Zwischen vier bis zwölf Prozent eines Jahrgangs sind davon betroffen. Das bedeutet: Allein in Deutschland leben rund 3,5 Millionen Legastheniker. Trotz dieser großen Zahl ist das Wissen über die Legasthenie in vielen gesellschaftlichen Bereichen immer noch äußerst gering.
Selbst in Schulen werden betroffene Kinder von Lehrkräften oft als dumm
oder faul eingestuft und ihre eigentlichen Fähigkeiten nicht erkannt.
Dazu trägt vermutlich auch die Tatsache bei, dass eine Legasthenie sich
bei den Betroffenen unterschiedlich äußert. Während die Einen mehr oder
weniger große Probleme mit der Rechtschreibung haben, tun sich Andere
beim Lesen schwer.
Mangelndes Wissen mit fatalen Konsequenzen
Dabei
sind Legastheniker nicht dümmer als andere Schüler. Unter ihnen liegt
die gleiche Normalverteilung der Intelligenz vor wie bei den anderen
Schülern auch, es gibt also weniger begabte, normal begabte und
hochbegabte Kinder mit Legasthenie. Sie alle haben „nur“ das Handikap,
beim Erlernen der beiden Kulturtechniken Lesen und Schreiben größere
Probleme zu haben. Das mangelnde Wissen über Legasthenie hat allerdings
fatale Konsequenzen: Betroffene Kinder leiden häufig unter Ausgrenzung
und Stigmatisierung, etwa 40 Prozent von ihnen erkranken psychisch. Die
Prognose zum Lebenslauf ist gut, wenn schulischer Nachteilsausgleich,
schulische Förderung, therapeutische Hilfe und familiäre Unterstützung
gewährleistet sind.
„Dabei haben molekulargenetische
Untersuchungen schon längst gezeigt, dass genetische Einflüsse
zweifellos eine wichtige Rolle bei der Entstehung einer Legasthenie
spielen“, sagt Professor Tiemo Grimm. „Ist ein Kind in der Familie von
einer Legasthenie betroffen, so sind in gut 40 Prozent der Fälle auch
Geschwister oder ein Elternteil betroffen – oder beide“. Grimm ist
Humangenetiker und hat bis zu seiner Emeritierung am Institut für
Humangenetik im Biozentrum der Julius-Maximilians-Universität Würzburg
(JMU) geforscht. Auch jetzt forscht er weiter an den Ursachen der
Legasthenie. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Grimm ist selbst
Legastheniker; weitere Mitglieder seiner Familie sind ebenfalls davon
betroffen.
Ein Gen, das im Gehirn zum Einsatz kommt
Bisher
sind über 20 verschiedene Gene beziehungsweise Genorte bekannt, die
eine Rolle bei der Entstehung einer Legasthenie spielen.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der JMU und des Würzburger
Universitätsklinikums haben diese Liste jetzt um einen weiteren Eintrag
verlängert – gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus
Forschungseinrichtungen in Deutschland und den USA. In einer gut
dokumentierten Familie, in der über vier Generationen hinweg Legasthenie
auftritt, haben sie einen neuen Genort auf Chromosom 4q28 nachgewiesen.
„Bei den Betroffenen in dieser Familie wurde eine spezifische
Nukleotidvariante in einer Sequenz des SPRY1-Gens gefunden, einem Gen,
welches im Gehirn exprimiert wird“, sagt Grimm. Diese Sequenzveränderung
könnte die Expression des SPRY1-Genproduktes beeinflussen.
Eine
direkte Konsequenz oder gar eine Therapie der Lese- und
Rechtschreibschwäche ergibt sich aus diesem Forschungsergebnis
allerdings nicht. Es handele sich um „Grundlagenforschung“, erklärt der
Humangenetiker. Immerhin liefere die Entdeckung ein neues
Puzzlestückchen für das Gesamtbild der Vorgänge im Gehirn. „Die
Legasthenie entsteht in engem Zusammenhang mit der biologischen Reifung
des zentralen Nervensystems, wobei Besonderheiten der auditiven und der
visuellen Informationsverarbeitung sowie wahrscheinlich auch der
zeitlichen Vorgänge im zentralen Nervensystem eine Rolle spielen“, sagt
Grimm.
Die Folge daraus: Bei etwa 60 bis 80 Prozent der Kinder
mit Legasthenie bestehen Schwächen in der sogenannten „phonologischen
Bewusstheit“ – also der Fähigkeit, lautliche Eigenschaften der
Schriftsprache zu erkennen und zu gebrauchen, zum Beispiel die
Fähigkeit, den Laut „u“ vom Laut „o“ zu unterscheiden. Von
Schwierigkeiten der visuellen Informationsverarbeitung ist hingegen eine
Minderheit der Kinder mit Legasthenie betroffen. Ihnen gelingt es in
der Regel nicht, einzelne Buchstabenzeichen wie beispielsweise A – u – t
- o zu dem Wort „Auto“ zusammenzufügen, wenn sie es alleine mit den
Augen versuchen, also lesen.
Publikation: A
Novel Locus and Candidate Gene for Familial Developmental Dyslexia on
Chromosome 4q”, Tiemo Grimm, Masoud Garshasbi, Lucia Puettmann, Wei
Chen, Reinhard Ullmann, Bertram Müller-Myhsok, Eva Klopocki, Lina
Herbst, Janina Haug, Lars R. Jensen, Christine Fischer, Markus Nöthen,
Kerstin Ludwig, Andreas Warnke, Jürg Ott, Gerd Schulte-Körne,
Hans-Hilger Ropers, and Andreas W. Kuss. Zeitschrift für Kinder- und
Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2020), 48, pp. 478-489. https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000758