Die fleischfressende Venus-Fliegenfalle schnappt zu, wenn ein Beutetier sie innerhalb von 30 Sekunden zweimal berührt. Wie das Kurzzeitgedächtnis und die Zählweise dieser Pflanze funktionieren, berichten Forscher in Nature Plants.
Die fleischfressende Venus-Fliegenfalle (Dionaea muscipula) kann bis fünf zählen: Das hat ein Team um den Biophysiker Rainer Hedrich, Professor an der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg, im Jahr 2016 nachgewiesen. Die Beobachtung erhielt weltweite Aufmerksamkeit in der Wissenschaft und in den Medien.
2019 bekam der JMU-Pflanzenwissenschaftler den mit 1,5 Millionen
Euro dotierten Koselleck-Forschungspreis der Deutschen
Forschungsgemeinschaft (DFG) – und damit die Möglichkeit herauszufinden,
wie die fleischfressende Pflanze zählt. Auch das ist nun gelungen: Ein
japanisches Forschungsteam, geleitet vom Entwicklungsbiologen Professor
Mitsuyasu Hasebe von der Universität Okazaki, und Rainer Hedrichs Team
stellen die Ergebnisse im Journal Nature Plants vor.
Berührt ein
Beutetier eines der Sinneshaare auf der inneren Fallenseite von Dionaea,
wird der mechanische Reiz in ein elektrisches Signal umgewandelt.
Dieses sogenannte Aktionspotential breitet sich über die gesamte Falle
aus. Als Reaktion darauf passiert erst einmal nichts. Wenn aber
innerhalb von 30 Sekunden ein zweites Aktionspotential die Falle
elektrisch erregt, schnappt sie zu. Lässt dagegen der zweite Reiz länger
auf sich warten, wird das erste Aktionspotential aus dem
Kurzzeitgedächtnis der Venus-Fliegenfalle gelöscht.
Fliegenfalle bekommt Kalziumsensor eingepflanzt
Das
molekulare Gedächtnis der Fliegenfalle könnte auf einer zellulären
Kalziumuhr beruhen – diese Möglichkeit diskutierten Rainer Hedrich und
der Göttinger Nobelpreisträger und Neurobiophysiker Erwin Neher schon
2018 in einem Übersichtsartikel.
Aber wie lässt sich nachweisen,
dass das Gedächtnis der Fliegenfalle für elektrische Wellen etwas mit
der Erzeugung und Speicherung von Kalzium zu tun hat? „Indem man der
Pflanze einen Kalziumsensor einbaut“, sagt Hedrich. Dieses gentechnisch
erzeugte Protein leuchtet auf, wenn die zelluläre Kalziumkonzentration
einen kritischen Wert überschreitet.
Derartige Kalziumsensoren
wurden bei Tieren und Pflanzen bereits erfolgreich eingesetzt, um
Kalziumsignale zu erforschen. Das klappte jetzt auch bei Dionaea.
Nachdem Hasebe und Hedrich im Juni 2020 das Genom der Venus-Fliegenfalle
und zweier naher Verwandter entschlüsselt hatte, gelang es ihnen, den
Kalziumsensor GCAMP in das Fallengewebe einzuschleusen. Aus dem Gewebe
ließen sich funktionsfähige Venus-Fliegenfallen regenerieren – „das war
der entscheidende Schritt hin zur Testung unserer Hypothese der
Kalziumuhr“, erklärt Hedrich.
Jedes Aktionspotential wird von einer Kalziumwelle begleitet
Experimente
mit den sensorbestückten Pflanzen zeigten: Wird ein Sinneshaar berührt,
erhöht sich blitzartig der Kalziumspiegel in den Zellen im Fuß des
Sinneshaars und breitet sich als Welle über die gesamte Falle aus. Das
passiert auf jeden einzelnen Reiz hin. Wie bei jeder Welle handelt es
sich aber um eine zeitlich befristete Erscheinung: Innerhalb weniger
Sekunden nach der Berührung erreicht die Kalziumwelle ihren Höhepunkt.
Nach einer Minute ist sie weitestgehend abgeebbt.
Was passiert,
wenn ein Sinneshaar zweimal hintereinander gereizt wird? Dann werden
getrennt voneinander zwei Aktionspotentiale auf die Reise geschickt. Das
erste bringt – wie erwartet – eine Erhöhung des zellulären
Kalziumspiegels mit sich. Trifft das zweite ein, bevor der
Kalziumspiegel auf seinen Ruhewert gefallen ist, überlagern sich die
beiden Signale. Dadurch wird eine Schwelle überschritten, was
kalziumabhängige Prozesse in Gang setzt, die wiederum die Falle
zuklappen lassen, so Hedrich.
„Die elektrische Erregung der
Fallenzellen wird also in eine Konzentrationserhöhung von Kalzium
übersetzt. Damit wird das vorbeiziehende Aktionspotential quasi in den
elektrisch erregten Fallenzellen gespeichert. Kommt ein weiteres
Aktionspotential, wird sein Kalziumwert dem ersten Signal hinzugefügt.
Über diese Kalziumuhr kann die Venus-Fliegenfalle die Zahl der
berührungsreizbedingten Aktionspotentiale zählen“, erklärt der
JMU-Professor.
Entscheidend ist das Überschreiten der Kalziumschwelle
Wenn
das zweite Aktionspotential allerdings erst eintrifft, nachdem die
erste Kalziumwelle abgeebbt ist, geht die Fliegenfalle nicht zu. Ist nun
die Zahl der Aktionspotentiale für den Fallenschluss verantwortlich
oder das Überschreiten der Kalziumschwelle?
Im Würzburger Labor
konnte gezeigt werden, dass nach 30 Sekunden ein zweites
Aktionspotential zwar nicht die Falle schließt, aber eine kurz
darauffolgende elektrische Erregung. Dieses Vorgehen wurde im
Hasebe-Labor genutzt, um das Verhalten des Kalziumspiegels zu
untersuchen. Das Ergebnis war eindeutig: Mit dem verspäteten zweiten
Reiz erhöhte sich der Kalziumspiegel zwar, blieb aber unterschwellig.
Mit dem dritten Reiz wurde die Schwelle für das Auslösen der Falle
überschritten.
Wie zählt die Venus-Fliegenfalle weiter?
„Unsere
Befunde zeigen, dass das Kurzzeitgedächtnis und die Fähigkeit, bis zwei
zu zählen, auf der Kalziumuhr beruhen“, freut sich Hedrich. Die
Venus-Fliegenfalle kann aber weiterzählen. Als Reaktion auf nachfolgende
Aktionspotentiale kurbelt sie die Biosynthese des Berührungshormons
Jasmonat an. Ab der fünften elektrischen Erregung produziert sie
Verdauungsenzyme, die die Beute zersetzen sollen, und bringt
Transportproteine in Stellung, um sich die nährstoffreiche tierische
Mahlzeit einzuverleiben.
In diesem Zusammenhang stellen sich die
Forschungsgruppen als nächstes der Frage, ob und wie die Kalziumuhr bis
fünf zählt. Dabei ist zu klären, ob die Zellen, die auf die
Aktionspotentiale Nummer eins und zwei reagieren, sich von denen
unterscheiden, die erst bei Nummer drei, vier oder fünf in Aktion
treten.
„Weiterhin wollen wir wissen, wie die unterschiedlichen
kalziumabhängigen Prozesse nach dem Überschreiten der jeweiligen
Kalziumschwelle angesteuert werden“, so der Würzburger Professor. „Unser
vorrangiges Interesse gilt den Kalziumkanälen, die durch das
Aktionspotential geöffnet werden, und dem Vorgang, bei dem das
Kalziumsignal in das Berührungshormon Jasmonat übersetzt wird.“ Â